Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
auf die Schönheit des Alltäglichen wieder geschärft. Das frühere Genervt-Sein war der Dankbarkeit gewichen, diese Dinge überhaupt noch erleben zu dürfen.
Es scheint also, dass wir unseren Blick auf die Welt und unser eigenes Empfinden je nach Situation ändern können. Geht es uns gut, leben wir nach dem Prinzip »Schneller, höher, weiter«. Kommt dies ins Stocken – durch eine Krise, eine Krankheit oder Ähnliches –, beginnen wir, die Dinge zu hinterfragen und andere Prioritäten zu setzen. Das neue Auto rutscht auf unserer »Wichtig-Liste« nach hinten, Familie, Freunde, Zeit rücken nach oben. Aber braucht es dafür wirklich immer erst eine Krise?
Bei mir persönlich hat die lange und intensive Beschäftigung mit den Schicksalen traumatisierter Menschen dazu geführt, dass mir viele materielle Dinge im Laufe der Zeit immer unwichtiger geworden sind. Was zählt, mir Kraft gibt und für mich Glück bedeutet, ist meine Familie, das Erleben der Natur, Freude an der Musik und das Gefühl der Verbundenheit mit Freunden und Kollegen. Und die Erkenntnis, dass nicht alles immer perfekt sein muss. Was zählt, ist allein die Tatsache, dass ich an etwas teilhaben, es erleben und genießen kann, so wie es ist.
Wie gesagt, ich wünsche niemandem die schmerzlichen Erfahrungen einer Katastrophe, um den Wert des eigenen Lebens wieder erkennen zu können. Aber hin und wieder möchte ich einige Menschen wachrütteln und sie dazu auffordern, doch mal eine Minute darüber nachzudenken, wie es ihnen ginge, wenn sie das alles verloren hätten! Ein Schicksalsschlag relativiert auf brutale Weise so manches »Problem«, das uns im Alltag auf die Palme bringt. Wenn der Bus mal wieder ein paar Minuten zu spät kommt, wenn man beim Arzt eine Stunde warten muss, wenn das Wetter nicht gut ist, wenn man in der Autowerkstatt einige Tage auf ein Ersatzteil warten muss, wenn die Gehaltserhöhung nicht kommt, wenn die Kinder in der Schule vom Lehrer »ungerecht« behandelt werden, die Note zu schlecht ist und so weiter und so weiter. Überlegen Sie mal, wie viel Energie Sie pro Woche in solche Scharmützel investieren. Kraft, die an anderer Stelle fehlt.
Mit meinen Patienten und mit Ausbildungskandidaten in der Psychotherapie-Ausbildung mache ich hin und wieder eine Übung, die ich auch Ihnen ans Herz legen möchte: die Dankbarkeitsübung. Nehmen Sie sich zehn Minuten Zeit, schließen Sie die Augen und denken Sie an alles, was Sie haben und heute erlebt haben, und bedanken Sie sich innerlich dafür – bei wem auch immer. Durch diese Übung wird uns bewusst, dass es oft die kleinen Dinge sind, die uns glücklich stimmen, etwa das Lächeln der Verkäuferin beim Bäcker, der Anblick oder Geruch einer Blume, ein nettes Gespräch mit dem Nachbarn. Wenn wir uns auf diese vermeintlich kleinen Erlebnisse oder Begegnungen konzentrieren, werden wir positiv gestimmt oder sogar von einem Glücksgefühl durchströmt.
Das Ganze mag Ihnen vielleicht etwas esoterisch vorkommen, der Effekt lässt sich aber tatsächlich mit harten Fakten aus der Hirnforschung belegen. In zahlreichen Experimenten wurde nachgewiesen, dass im Gehirn die gleichen Prozesse aktiviert werden, egal ob uns eine Situation real widerfährt oder ob wir uns nur imaginativ – also in unserer Vorstellung – in sie hineinversetzen. Denken wir also etwas Schönes, werden entsprechend Glückshormone freigesetzt.
Gekommen bin ich auf diese Übung, als ich einmal zusammen mit meiner Frau in Thailand auf einen Bus in die nächste Stadt wartete. Ich hatte mich vorher erkundigt, wann der Bus kommen sollte: um 10 Uhr. Als nach einer Viertelstunde noch kein Bus da war, wurde ich unruhig. Ich sprach zwei thailändische Frauen an, fragte, ob wir an der richtigen Haltestelle stünden. Sie bejahten, und ich war zunächst beruhigt, was sich änderte, als der Bus nach 25 Minuten immer noch nicht da war. Genervt wandte ich mich erneut an die beiden Frauen, die nur lachend mit den Schultern zuckten. So sei das hier nun einmal. Meine Frau und ich kamen mit den beiden ins Gespräch, tauschten einige Dinge über Thailand und Deutschland aus; sie erzählten, wo sie arbeiteten, wen sie in der Stadt besuchen wollten und so weiter. Sie lächelten, als ich zum gefühlt fünften Mal fragte, ob man in Thailand immer so lange auf den Bus warten müsse. Ihre Antwort war entwaffnend: Es sei doch schön, gemeinsam hier zu stehen und zu warten, es sei wie meditieren. Während wir die verrinnenden Minuten als
Weitere Kostenlose Bücher