Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
unserer Unterhaltung sagte sie den unglaublichen Satz: »Gott sei Dank habe ich diese Krebserkrankung bekommen! Sie hat mir das Leben gerettet.« Und dann erklärte sie mir, dass ihr erst durch die Erkrankung klar geworden war, wie falsch sie bis zum Ausbruch der Krankheit gelebt hatte. Sie hatte Beziehungen gehabt, die sie nicht wollte, eine Arbeit, die sie wenig interessierte, Heterosexualität gelebt, obwohl sie homosexuell fühlte – kurz: ein Leben geführt, das ihr in relevanten Bereichen nicht entsprach.
Sie erklärte mir, dass sie sich früher regelrecht gehasst habe, bis die Erkrankung sie gezwungen hätte, über ihr Leben nachzudenken und Bilanz zu ziehen. Ein Weg der Selbstfindung, auf dem sie vieles radikal veränderte. Während sie früher Geld und Konsum für glückbringend erachtet habe, seien ihr nun Kontakte zu Freunden und Familie viel wichtiger. Sie wirkte zufrieden und in sich ruhend und sagte selbst, ihr Leben sei endlich in Balance gekommen. Auch ihre Arbeit hatte sie gewechselt. Sie machte inzwischen eine bestimmte Therapieausbildung, um später andere Menschen auf dem Weg zur Selbstfindung begleiten zu können. Sie hat die schlimme Diagnose als Chance begriffen und einen Neuanfang gewagt.
Es ist leider häufig so, dass wir erst mit dem Rücken zur Wand stehen müssen, bis wir etwas ändern. Manche schaffen es nicht einmal dann. Wer zu lange »falsch« im hier gemeinten Sinn lebt, wird schlimmstenfalls bitter dafür bezahlen müssen.
Mut zur Veränderung, wenn sie denn ansteht in unserem Leben, kann uns davor schützen. Schlussendlich können wir auf Dauer weder gegen unseren Körper noch gegen unsere Psyche agieren. Beide vergessen nicht, beide werden sich früher oder später melden und mit einer Erkrankung auf sich aufmerksam machen. Das ist keine neue Erkenntnis, trotzdem leben wir weite Teile unseres Lebens so, als müsse dieser vermeintliche Stein der Weisen erst noch gefunden werden. Denn oft dauert es bis zum totalen Zusammenbruch, bis wir bereit sind, hinzusehen und die Reißleine zu ziehen.
2. Über gefühlte und reale Bedrohungen
Die Wahrscheinlichkeit, einen solchen Zusammenbruch zu erleiden, scheint in unserer Zeit gestiegen zu sein. Ich habe eingangs bereits erwähnt, dass die Zahl psychischer Erkrankungen zugenommen hat. Die Gründe dafür mögen individuell verschieden sein, doch es gibt einige Faktoren, die das begünstigen, was ich unter dem Begriff »zunehmende Lebensangst« zusammenfassen möchte. Ein ganz wichtiger Aspekt ist die Tatsache, dass wir uns als immer weniger selbstwirksam erleben. Man muss nur die Zeitung aufschlagen oder den Fernseher anschalten: Wir verstehen viele Zusammenhänge nicht mehr und können konkret immer weniger Einfluss nehmen. Die Technik eines außer Kontrolle geratenen Atomkraftwerks, die Veränderung des Weltklimas, der gewaltige Euro-Rettungsschirm und die ominösen Finanzhebel – wer versteht das wirklich noch? Die Komplexität dieser ganzen Problemfelder, die uns zunächst nur mittelbar betreffen, verunsichert uns massiv. Hinzu kommen jedoch weitere potenzielle Problemfelder, die uns ganz direkt berühren, wie Familie, Arbeit oder Gesundheit. Viele meiner Patienten berichten mir, dass der Druck am Arbeitsplatz in den vergangenen Jahren massiv angestiegen ist. Zunehmende Technisierung, ein größeres Pensum bei weniger Mitarbeitern und die Furcht, dagegen aufzubegehren, weil man nicht als »stressanfällig« gelten will, sind ein idealer Nährboden dafür, dass man sich übernimmt und die eigenen Grenzen überschreitet. Psychische Belastungsstörungen und psychosomatische Beschwerden sind die Folge.
Die Angst zu scheitern wird dadurch verstärkt, dass wir nahezu täglich allein schon durch die Medien mit Bildern von Unglücken, Katastrophen, Gewalttaten, politischen Unruhen, Flüchtlingsströmen und unglaublichem menschlichem Leid konfrontiert sind. Wir »konsumieren« diese Nachrichten morgens beim Lesen der Zeitung, online über einen News-Ticker, später beim Abendessen oder zwischen zwei Filmen, wissen heute oft nicht mehr, welche Katastrophe gestern aktuell war, geschweige denn vorgestern. Diese Dauerberieselung führt dazu, dass wir »gefühlt« den Eindruck haben, die Welt werde immer schlimmer, das Elend immer größer. Statistisch gesehen haben weder Gewalttaten noch schwere Unglücke zugenommen, wohl aber die Berichterstattung darüber. Über das Internet kann man quasi live dabei sein, verwackelte Handyfilme, getwitterte
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