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Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Titel: Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Pieper
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Fehlentwicklungen. Die Schuld- und Schamgefühle der Betroffenen sind so stark, dass sie es nicht schaffen, sich vertrauten Personen gegenüber zu öffnen, die ihnen erklären könnten, dass sie damals als kleines Mädchen gar keine Chance hatten, sich gegen einen erwachsenen Mann durchzusetzen. Gelingt es in der Therapie, die Bewertung des sexuellen Missbrauchs wieder realistisch zurechtzurücken – hier der Täter, dort das chancenlose Opfer –, dann haben diese Frauen eine Chance, ihr Trauma hinter sich zu lassen. Sie müssen die negativen Gedanken über sich selbst als unzutreffend und destruktiv erkennen und durch positive ersetzen, die zum Beispiel lauten können: »Ich habe getan, was ich konnte«, »Es ist vorbei, heute kann ich mich schützen«, »Ich bin wertvoll und liebenswert«.
    Hält eine frühkindlich sexuell traumatisierte Frau dagegen an der Sichtweise der eigenen Schuld weiter fest, wird sie sich immer stärker hassen – und alles daran setzen, sich und ihren Bezugspersonen zu beweisen, dass sie tatsächlich nicht liebenswert ist. Das Ausmaß der psychischen und körperlichen Zerstörung ist immens, man muss es in manchen Fällen als schleichenden Suizid bewerten.
    »Ich habe nicht genug aufgepasst« – Sich Vorwürfe machen
    Immer wieder erleben wir Situationen, in denen wir plötzlich entsetzt feststellen, dass wir nicht alles wie gewünscht im Blick hatten. Dann wischen wir uns den Schweiß von der Stirn und sagen uns: »Das ist ja Gott sei Dank noch mal gut gegangen!« Und was, wenn doch nicht?
    Ich selbst habe einmal eine solche Situation erlebt – Gott sei Dank aus der ersten Kategorie –, als meine Tochter fünf Jahre alt war: Wir waren im Urlaub, es war ein schöner Tag, in ausgelassener Stimmung liefen wir einen Waldweg entlang. Wir näherten uns einer Eisenschranke, die verhindern sollte, dass unbefugte Fahrzeuge diesen Weg befahren. Übermütig rannte ich auf die Schranke zu, meine Tochter lief hinter mir her. Ich wollte das Hindernis mit einem Satz überqueren, kletterte auf die Schranke – und merkte im Moment des Absprungs, wie sich die Stange aus ihrer Verankerung löste und nach hinten schnellte. Noch in der Luft wusste ich, dass es ein katastrophaler Fehler gewesen war, doch ich konnte nichts tun. Mir war klar, dass die schwere Eisenschranke meine heranstürmende Tochter mit voller Wucht treffen würde und in Bruchteilen von Sekunden schrie es in mir: »Du bist Schuld, wenn ihr etwas passiert!« Im gleichen Moment hörte ich, wie die Stange aufschlug. In Panik blickte ich zurück: Meine Frau hatte die Kleine rechtzeitig zurückreißen können, außer einem ausgeschlagenen Zahn war nichts weiter passiert.
    Nicht auszudenken, wäre wirklich etwas Schlimmeres geschehen oder wäre meine Tochter gar tödlich getroffen worden. Ich hätte mir schreckliche Vorwürfe gemacht, dass ich diese Gefahr nicht erkannt hatte, und wäre meines Lebens nicht mehr froh geworden. Aber was hätte ich mir vorzuwerfen gehabt? Ist es falsch, mit der fünfjährigen Tochter übermütig durch den Wald zu tollen? Hätte ich sie diszipliniert an die Hand nehmen und ihr beibringen müssen, dass überall Gefahren lauern, und die Schranke deshalb umrunden müssen? Oder hätte ich gar nicht erst in den Urlaub fahren und zuhause bleiben sollen?
    Heute kann ich sagen: Egal wie wir uns absichern, was wir tun, um Unheil von uns fernzuhalten – es kann immer etwas passieren. Und deswegen können wir auch nicht schuld sein an etwas, das wir nicht bedenken oder beeinflussen konnten. Das Leben birgt nun einmal gewisse Risiken, gegen die es keine Versicherung gibt.
    Nicht immer geht so etwas glimpflich aus – wie bei jenem tragischen Sturz des Kindes einer meiner Patientinnen vom Balkon. Das schreckliche Ereignis wog für die Mutter umso schwerer, weil sie sich die Schuld dafür zuschrieb. Sie bewohnte mit ihrem Mann und dem Kind eine Wohnung im ersten Stock eines Hauses. Es gab einen großen Balkon mit einem Holzgeländer. Haus und Geländer waren nicht älter als zwei bis drei Jahre. Die Mutter ließ das Kleinkind, das noch nicht laufen konnte, auf dem Balkon spielen, während sie den Abwasch in der Küche mit direktem Zugang zu diesem Balkon machte. Der Balkon war wie ein großes Laufställchen für das Kind. Plötzlich spürte die Mutter, dass irgendetwas nicht in Ordnung war, ein kurzer Moment eines lähmenden Schrecks überfiel sie. Sie wollte auf dem Balkon nach ihrem Kind schauen, es war nicht da. Sie

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