Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
die Tür zumachen. Das Problem dabei ist nur, dass belastende Erlebnisse, schlimme Erfahrungen, für die wir noch keine Worte gefunden haben, in uns weiter gären; sie werden sich, ohne dass wir etwas dagegen tun könnten, immer wieder und mit immer stärkerer Macht melden, weil sie das Etikett »unerledigt« tragen. Mit anderen Worten: Das Leid potenziert sich oft, je länger wir abwarten, statt aktiv damit umzugehen.
Grundsätzlich vermeiden Menschen Gespräche über ein traumatisches Erlebnis vor allem deshalb, weil sie befürchten, dabei so sehr an ihre Belastungsgrenzen zu gelangen, dass sie glauben, den Schmerz nicht aushalten zu können. Wenn sich Betroffene überhaupt Freunden oder Angehörigen öffnen, tun sie das daher in der Regel nur bis zu einem gewissen Punkt. Entweder um sich selbst oder aber die Zuhörer vor einer zu großen emotionalen Erschütterung zu schützen.
Weil es leicht zu einer emotionalen Überflutung kommen kann, ist es wichtig, zu Beginn einer therapeutisch begleiteten Aufarbeitung den Fokus auf die kognitive Ebene zu setzen. Die kognitive Ebene meint alles, was wir kontrolliert und logisch denken können, sie ist der Gegenpart zur emotionalen Ebene.
Durch bildgebende Verfahren wissen wir heute, dass traumatische Ereignisse, die emotional sehr aufgeladen sind, größtenteils im »limbischen System« unseres Gehirns und hier besonders in der Amygdala gespeichert werden. Wenn Traumatisierte über ihre Erlebnisse berichten, ist die Aktivität des Gehirns hauptsächlich in diesen Arealen nachzuweisen, kaum jedoch in jenen, die für logisches Denken zuständig sind. Das traumatische Erlebnis ist also im »emotionalen Gehirn« gespeichert, mit den dazugehörigen Gefühlen wie (Todes-) Angst und den damit zusammenhängenden Körperreaktionen wie Herzklopfen, Zittern oder Schweißausbrüchen.
Das erklärt, warum Betroffene beim Reden oder auch nur beim Denken an die traumatische Erfahrung in einer bestimmten Weise reagieren. Oft reicht schon ein Schlüsselreiz, den man mit der Situation verbindet, dass die Traumatisierten emotional schnell überfordert sind und sich genauso hilflos fühlen wie zum Zeitpunkt des traumatischen Ereignisses. Dann kann es passieren, dass sie sich an Teile des Geschehens (manchmal sogar an das Ganze) nicht mehr erinnern können oder aber große Angst haben, es könnte sie überfordern, und daher die Erinnerung lieber abbrechen. Mit der Konsequenz, dass sie jeder Situation ausweichen, die jene Erinnerung wieder nach oben bringen könnte.
Der sogenannte präfrontale Kortex ist in unserem Gehirn dafür zuständig, starke emotionale Reaktionen zu dämpfen, die Dinge eher rational anzugehen. Daher ist es Ziel des therapeutischen Gesprächs, diesen zu aktivieren, also auf die kognitive Ebene zu fokussieren. Man kann das erreichen, indem man den Betroffenen zu einer sachlichen und detailgenauen Schilderung des Ereignisses auffordert. Folgende Fragestellungen sind dabei hilfreich: »Was haben Sie gesehen oder gehört?« – »Was haben Sie gerochen?« – »Wie war der Täter gekleidet?« –»Wo haben Sie gestanden?« – »Wie lag der Tote da?« – »Wie sah die Verletzung aus?« usw.
Durch solche Fragen werden die Betroffenen gezwungen, genau hinzuschauen – sie müssen Erinnerungsprozesse aktivieren, nachdenken und Details genau beschreiben. Man könnte nun einwenden, diese exakte Beschreibung der einzelnen Stationen des traumatischen Geschehens sei eine unnötige Quälerei. Das Gegenteil ist der Fall: Viele Menschen fühlen sich durch das gezeigte Interesse an auch noch so kleinen Details gewürdigt in der Schwere oder Tragik ihrer außergewöhnlichen Erfahrung. Durch die dazu gegebene Erklärung des Therapeuten, dass er genau verstehen möchte, was dem Patienten damals passiert ist, fühlt sich dieser als Mensch wertgeschätzt.
Emotionale Schleife
Immer dann, wenn es zu Gefühlsäußerungen des Patienten kommt, wenn er Zeichen von Belastung, Trauer, Angst, Panik, Ekel und Ähnlichem zeigt, führt der Therapeut eine sogenannte »emotionale Schleife« durch.
Ein Beispiel: Jener Mutter, die ihr eineinhalbjähriges Kind durch einen Sturz vom Balkon verloren hat, kommen die Tränen bei der Schilderung, wie sie ihren Sohn dort unten in der Tiefe liegen sah.
Der Therapeut sagt: »Das ist ein ganz schlimmer Moment für Sie, da kommen alle Gefühle wieder hoch. Das kann ich gut nachvollziehen, und das ist auch ganz normal. Ich möchte Sie bitten, jetzt erst einmal
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