Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
lassen und zu der Einsicht gelangen: »Ich habe getan, was ich tun konnte, trotzdem ist es zu diesem bitteren Ende gekommen.« Man kann mit dieser Haltung das Thema besser ablegen und aufhören, dauernd um die Frage der Schuld zu kreisen. So ist es eher möglich, dieses Ereignis in sein Leben zu integrieren und damit weiterzuleben.
Ganz anders sieht die Situation natürlich aus, wenn jemand tatsächlich Schuld auf sich geladen hat, beispielsweise ein Bahnwärter, der die Signalanlage falsch geschaltet hat. In diesem Fall muss genau überlegt werden, wie die Person es schaffen kann, mit dieser Bürde zu leben. Ob es möglich ist, etwas wiedergutzumachen, um Vergebung zu bitten, oder ob es sinnvoll ist, sich selbst eine Art Buße aufzuerlegen. Eine meiner Patientinnen zum Beispiel, die eine Teilverantwortlichkeit trug, dass ein Kind bei einem Unfall zu Tode gekommen war, verpflichtete sich trotz ihrer angespannten finanziellen Lage dazu, eine Patenschaft für ein Kind in der Dritten Welt einzugehen. Mit dieser »Wiedergutmachung« war die Schuld für sie leichter zu ertragen.
»Hätte ich nur nicht …« – Den Stein vermeintlich erst ins Rollen gebracht haben
Eine Mutter aus Borken verhilft ihrem Sohn zu einem Ferienjob in der Grube, damit er sich vor Beginn des Studiums etwas dazuverdienen kann. Sein erster Arbeitstag ist der Tag des Grubenunglücks, der Junge kommt um. Die Mutter quält sich mit »hätte, wenn und aber«.
Eine andere Mutter, die ihr Kind in den Unglückszug von Eschede gesetzt hat, um es nach Norddeutschland zur Oma zu schicken, leidet unter Schuldgefühlen, weil sie der Tochter erlaubt hat, allein auf diese Reise zu gehen.
Eine ältere Witwe aus Borken kommt nicht darüber hinweg, dass sie am Unglücksmorgen ihren Mann geweckt hat, weil dieser zum ersten Mal seit 24 Jahren verschlafen hat. Er hatte eigentlich liegen bleiben wollen, sie jedoch hatte ihn gedrängt, aufzustehen: »Hätte ich ihn nicht geweckt, wäre er heute noch am Leben!«
Eltern schenken ihrem 19-jährigen Sohn zum Abitur ein Auto, am nächsten Tag hat er einen tödlichen Unfall. Sind sie verantwortlich für seinen Tod?
Kinder und Enkel überraschen die Eltern beziehungsweise Großeltern zur goldenen Hochzeit mit einer Kreuzfahrt im Mittelmeer. Der Kapitän der »Costa Concordia« steuert zu nahe an der italienischen Küste vorbei, das »absolut sichere« Schiff kentert. Die Jubilare gehören zu den 32 Toten und Vermissten dieser Katastrophe. Die Hinterbliebenen haben das Gefühl, ihre beiden Lieben in den Tod geschickt zu haben.
Ein Vater bezahlt der 16-jährigen Tochter auf deren Drängen hin während des gemeinsamen Urlaubs am Meer einen Tauchkurs. Freudig winkend verabschiedet sie sich – und kehrt nie wieder zurück. Die Tauchschule hatte schlecht gewartetes Gerät, die Gruppe war zu groß, zwei Jugendliche starben. Der Vater kommt fast um vor Schuldgefühlen und hält fest an dem Gedanken: »Ich hätte es ihr nie erlauben dürfen!«
Allen diesen Beispielen gemein ist der quälende Gedanke: »Hätte ich das und das nicht getan, wäre es nicht zu dem Unglück gekommen.« Wer es nicht schafft, von diesen Schuldgefühlen wegzukommen, wird ein gebrochener Mensch bleiben. Denn aus dem hartnäckigen Festhalten an Selbstvorwürfen kann ein lebenslanges Leiden werden. Es gibt Menschen, die sich regelrecht verbieten, jemals wieder Glück und Freude zu empfinden.
Auch hier hilft wieder nur die Einsicht, dass wir den Lauf vieler Dinge schlicht nicht beeinflussen können. Es ist tragisch, dass es zu dieser Entwicklung gekommen ist, aber keiner der Betroffenen hat es so gewollt. Sie wollten anderen eine Freude machen, jemanden bei einem Vorhaben unterstützen oder ihm bei etwas helfen, das er alleine nicht geschafft hätte. Tragik ist etwas anderes als Schuld. Das gilt es zu erkennen, auch wenn es schwerfällt.
»Ich hatte ein ungutes Gefühl« – Dunkle Vorahnungen
Eine Witwe aus Borken träumte vor dem Unglück von einem großen Brand in der Grube. Sie warf sich später vor, ihren Mann und all die anderen nicht gewarnt zu haben, machte sich dafür verantwortlich, das Unglück nicht verhindert zu haben. All meine Gespräche mit ihr änderten nichts an ihrer Selbstanklage: »Ich hatte eine Vorahnung, einen eindeutigen Traum, ich hätte es verhindern müssen!« Diese Gedanken waren so quälend für sie, dass sie trotz vielfältiger Unterstützungsversuche – durch andere betroffene Frauen und trotz intensiver
Weitere Kostenlose Bücher