Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
zusammenbrach, beschrieb sie hinterher so: »Es war, als sei ich die ganze Zeit auf einem Laufband gelaufen und plötzlich ist es stehen geblieben.« Sie habe im Fallen noch gesehen, dass die Lampe an der Decke nicht richtig befestigt war, dann verlor sie das Bewusstsein. Sie selbst sei überzeugt gewesen zu sterben. Der Notarzt brauchte eine Stunde, um sie überhaupt transportfähig zu machen. In der Klinik räumten die Ärzte der jungen Frau eine Überlebenschance von gerade einmal 5 Prozent ein. In einer langen Notoperation konnte sie gerettet werden, an den inneren Verletzungen wird sie ein Leben lang zu laborieren haben.
In der Therapie musste zunächst ihre Erinnerung reaktiviert werden, da sie an einer Amnesie litt. Sie war vollkommen verunsichert, begegnete Menschen mit großer Angst und konnte sich nicht vorstellen, je wieder in ihrem alten Beruf zu arbeiten. Das für sie Schlimmste in jener Situation war der Gedanke an die Vorbehalte, die sie nicht geäußert hatte, als es um die Aufnahme des betreffenden Jugendlichen in die Gruppe gegangen war. Sie hatte sich nicht getraut, ihren negativen Eindruck vor den Kollegen zu äußern, war über ihre innere Weisheit hinweggegangen und hatte dem Mehrheitsbeschluss, den Jungen aufzunehmen, zugestimmt.
Als wir in der Therapie an diesem Punkt angelangt waren, zeigte sich, welche unterschiedlichen Schlüsse Menschen aus dieser Erkenntnis ziehen: Während viele der oben genannten Betroffenen in der Vergangenheit verharrten und sich vorwarfen, nicht auf ihr Gefühl gehört zu haben, orientierte sich die Erzieherin nach vorn. Sie zog für sich den Schluss, in Zukunft zu ihrem Bauchgefühl oder ihrer inneren Weisheit zu stehen, sich zu trauen, mehr auf ihre innere Stimme zu hören und diese auch zum Ausdruck zu bringen, selbst wenn darauf unangenehme Diskussionen folgen.
Hätte sie permanent mit sich gehadert, warum sie damals bei den Aufnahmegesprächen nicht den Mund aufgemacht hatte und die Katastrophe so vielleicht verhindert hätte, würde das Trauma sie vielleicht heute noch fest im Griff halten. So aber konnte sie nicht nur die Konfrontation mit dem »Ort des Grauens« aushalten, sondern kann heute sogar wieder mit Jugendlichen arbeiten. Auf ihre innere Stimme reagiert sie mit einer größeren Sensibilität, sie hat das Geschehen als Teil ihres Lebens akzeptiert und eine Kraft entwickelt, die sie positiv in die Zukunft blicken lässt.
Natürlich sollte man aus diesem Beispiel nicht den Schluss ziehen, dass man immer und überall nur nach seinem Bauchgefühl entscheiden sollte. Aber man sollte es in seine Überlegungen mit einbeziehen. Der Kontakt zur eigenen inneren Weisheit ist wichtig – man sollte in gewissen Situationen auch auf sie hören. Ich bin überzeugt davon, dass sich viele Menschen bei kleineren Krisen hin und wieder eingestehen müssen: »Dass das schiefgegangen ist, war aber jetzt mit Ansage …« Eine Ansage, eine innere Stimme, die man aufgrund von Zwängen (der Job, die Familie, die Rolle usw.) schlicht überhört oder nicht ernst genug genommen hat.
»Ich habe es provoziert« – Scham- und Schuldgefühle nach sexuellem Missbrauch
Viele meiner Patientinnen wurden als Kind vom eigenen Vater, einem Onkel oder einem anderen Erwachsenen oft jahrelang sexuell missbraucht und immer wieder vergewaltigt. Neben der schwer zu überwindenden Scham, darüber zu sprechen, sind es vor allem Schuldgefühle und Selbstvorwürfe, die diese Frauen veranlasst haben, das daraus entstandene psychische Leid oft über Jahrzehnte für sich zu behalten. Die seelischen Qualen sind immens, sie haben oft Angst vor Nähe, können Sexualität kaum genießen, hassen häufig ihren Körper, den sie deswegen quälen, indem sie magersüchtig werden oder sich selbst verletzen. Viele entwickeln psychische Erkrankungen, etwa eine Borderline-Störung.
In der Therapie ist die Bearbeitung der Schuldgefühle von zentraler Bedeutung. Für mich als Therapeuten ist es mitunter schwer auszuhalten, dass die betroffenen Frauen, die damals kleine Kinder waren, sich selbst die Schuld daran geben, dass ein Erwachsener sich an ihnen vergangen hat: »Ich hätte es nicht zulassen dürfen!«, »Ich habe ihn vielleicht durch mein Verhalten oder durch meine Kleidung sexuell provoziert«, »Ich hätte weglaufen müssen!«, »Ich bin wertlos, nicht liebenswert«, »Ich bin schuld!«
Solche Gedanken und Schuldgefühle sind häufig der Grund für ein langes Leiden und ernste psychische
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