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Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Titel: Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Pieper
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und akzeptieren, was passiert ist. Es geht also um die Einsicht, dass wir bestimmte Dinge nicht ändern können, auch wenn wir es uns noch so sehr wünschen. Um die Erkenntnis, dass wir ständigen Veränderungen in unserem Leben ausgesetzt sind und dass diese sich häufig ohne unseren Einfluss vollziehen. Und dass wir gerade in den Situationen, in denen wir die Kontrolle verloren haben, in denen ein Ereignis über uns hereingebrochen ist, das wir nicht aufhalten konnten, nur eine einzige Chance haben, damit klarzukommen: nämlich, diese Entwicklung radikal zu akzeptieren.
    Der umgekippte Kleiderschrank
    Zu Beginn ist es notwendig, erst einmal genau nachzuvollziehen, was eigentlich passiert ist. Schon in der notfallpsychologischen Begleitung nach Katastrophen wie einem Bahnunglück oder einem Massenunfall auf der Autobahn ist es ein Hauptziel in der Akutphase, dass die Betroffenen die Ereignisse anhand einer logischen Zeitfolge rekapitulieren und verstehen können. Dadurch erreichen wir, dass ein gewisses Gefühl der Sicherheit wiederhergestellt werden kann. Man gewinnt sozusagen die Hoheit über das Geschehen zurück – und sei es nur erzählerisch.
    Allerdings scheuen viele Menschen davor zurück, sich genau zu erinnern, da sie befürchten, die damit entstehenden starken Emotionen nicht ertragen zu können. Sie versuchen, ihre Erinnerungen wegzuschließen. Häufig sind sogar schon eigene Schutzmechanismen aktiv geworden und haben die Erinnerung an das Trauma teilweise, manchmal sogar ganz verschleiert.
    Als Beispiel für die Situation eines Menschen, der ein schlimmes, nicht verarbeitetes Erlebnis hatte, sich bisher nicht an die Bearbeitung herantraute und von Vermeidungsverhalten geprägt ist, wähle ich für meine Patienten oft das bereits erwähnte Bild des »umgekippten Kleiderschranks«: »Stellen Sie sich vor, Ihr Kleiderschrank ist umgekippt. Alles ist aus dem Schrank herausgefallen. In Panik haben Sie den Schrank hektisch wieder aufgestellt, alle Sachen hineingestopft und schnell die Tür zugedrückt. Im Schrank herrscht jetzt totales Chaos, nichts liegt mehr an seinem richtigen Platz, und manchmal springt die Tür von alleine auf, weil die ungeordneten Kleidungsstücke herausquellen. Das ist vergleichbar mit den plötzlichen Flashbacks, die Sie immer wieder überfallen. Sie versuchen die ganze Zeit über, die Schranktür zuzuhalten – und können kaum noch Zeit und Energie für etwas anderes aufwenden. So aber können Sie gar kein normales Leben mehr führen. Während der Aufarbeitung machen wir nun Folgendes: Wir öffnen gemeinsam den Schrank, holen alle Sachen heraus und schauen sie an. Jedes einzelne Stück steht für einen Aspekt der schlimmen Erfahrung. Wir betrachten jedes Kleidungsstück ganz genau, legen es anschließend zusammen und ordnen es dann in die jeweiligen Fächer des Schrankes ein: Hemden zu Hemden, Socken zu Socken, Handtücher zu Handtüchern. Ist alles aufgeräumt, können Sie den Schrank wieder zumachen und brauchen nicht länger zu befürchten, dass die Sachen von allein wieder herausfallen. Sie können den Schrank schließen, sich von ihm entfernen und sich in aller Ruhe anderen Aufgaben widmen. Sie können auch ab und zu zum Schrank zurückgehen, ihn öffnen und sich ansehen, auf welche Weise die Sachen dort geordnet liegen. Dann können sie ihn wieder beruhigt hinter sich lassen. So wie mit dem Schrank werden Sie später auch mit Ihren geordneten Traumaerfahrungen umgehen können.«
    Dieses Beispiel macht es den Betroffenen leichter, den Sinn der Auseinandersetzung mit den schrecklichen Erfahrungen (also das Betrachten und Zusammenfalten der Wäsche- und Kleidungsstücke) nachzuvollziehen und sich selbst dafür zu motivieren. Die Metabotschaft des Therapeuten lautet hier: Wir schaffen es gemeinsam, uns das Geschehene anzusehen, uns dem zu stellen, auch wenn es grausam, unaussprechlich schlimm oder eklig war. Aber – wie bereits erwähnt – je öfter man das Unaussprechliche ausspricht, umso mehr verliert es seinen Schrecken. Auch wenn die Vorstellung, sich den Inhalt des umgekippten Kleiderschranks genau anzuschauen, zunächst einmal Angst macht. Denn natürlich ist es nicht leicht, über Schuldgefühle oder sehr schmerzhafte Erlebnisse wie eine Vergewaltigung, einen schlimmen Unfall, den Verlust eines geliebten Menschen oder gar des eigenen Kindes zu sprechen, ohne dabei emotional an Grenzen zu kommen. Unser erster Impuls ist: schnell wieder in den Schrank hineinstopfen und

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