Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
psychotherapeutischer Interventionen – immer depressiver wurde und aus ihrer Verzweiflung nicht mehr herauskam. Ihre nicht ernst genommenen »Vorahnungen« spielten dabei eine gewichtige Rolle.
Auch Opfer von Misshandlungen oder sexueller Gewalt berichten immer wieder, dass sie eine Art Vorahnung gehabt, diese aber ignoriert hätten: »Schon aus 50 Metern Entfernung sah ich in den Augen des Täters einen Blick, dass ich wusste, er hat nichts Gutes vor!« Sie glauben, wenn sie nur auf ihr »Bauchgefühl« gehört hätten, wäre das alles nicht geschehen.
Wenn ich diese Betroffenen frage, ob sie diese »Vorahnungen«, dieses »ungute Gefühl« nicht auch aus Situationen kennen, in denen anschließend nichts passiert ist, stellen sie in der Regel schnell fest, dass nur dieses eine Mal etwas geschehen ist. Aus psychologischer Sicht ist es wichtig, diese Menschen, die sich mit der Frage des Realitätsgehalts von Vorahnungen beschäftigen, »aufzuklären«. Wir haben nun einmal nicht die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, auch wenn einige das von sich behaupten und damit Geld machen.
Dennoch kennen viele von uns das unangenehme Gefühl, das einen überkommt, wenn etwas passiert ist und man erschreckt feststellt, dass man vorher schon eine ungute Ahnung hatte, die jetzt bestätigt wurde. Gleichzeitig war es unzählige Male im Leben umgekehrt. Alle Eltern werden mir zustimmen, wie oft man ein schlechtes Gefühl hatte, wenn man den Kindern ein Stück mehr Selbständigkeit zugestanden hat; man hatte Angst vor Unfällen, schlechten Einflüssen oder sonstiger Unbill – aber es ging in der Regel gut. Die Kinder wären nie selbständig geworden, wenn wir sie mit unserer Furcht, dass etwas passieren könnte, davon abgehalten hätten.
All diese »Vorahnungen« haben wir hinterher schnell wieder vergessen, sofern ein negatives Ereignis ausgeblieben ist. Wenn es aber zu einem wirklich schlimmen Unfall kommt, erinnern wir uns an unser mulmiges Gefühl. Der Schritt zu Selbstvorwürfen, auf dieses Gefühl nicht reagiert und so das Unglück nicht verhindert zu haben, ist dann nicht mehr weit.
An dieser Stelle ist es jedoch wichtig, eine Abgrenzung vorzunehmen: Wir neigen dazu, nach einem negativen Vorfall die Tage und Stunden davor rückblickend auf Anzeichen abzuklopfen, die wir möglicherweise übersehen haben.
Ganz anders verhält es sich jedoch, wenn wir in einer bestimmten Situation gegen unsere innere Stimme handeln, die uns eigentlich einen klaren Hinweis gegeben hat, wie wir uns hätten verhalten sollen und wie nicht. Wir können es auch die »innere Weisheit« nennen. Wenn sich alles in uns sträubt und wir dennoch dagegen agieren – etwa aus einem Sachzwang heraus oder um andere nicht vor den Kopf zu stoßen. Meistens kommen wir mit einem »blauen Auge« davon, ärgern uns vielleicht und lernen im Idealfall aus dieser Erfahrung und ziehen unsere Konsequenzen.
Manchmal kann es indes zu sehr tragischen Situationen kommen, wenn man nicht den Mut hatte, zu seiner inneren Weisheit zu stehen. Wie wichtig es ist, darauf zu hören, zeigt das Beispiel einer jungen Erzieherin, die von einem Jugendlichen niedergestochen und lebensgefährlich verletzt wurde. Als sie an jenem Tag zur Arbeit kam, fand sie auf ihrem Schreibtisch ein ungewöhnliches Übergabeprotokoll ihrer Kollegen vor. Sie las, dass einige Jugendliche Kevins Bett auf den Balkon gestellt und diesen mit Zetteln und Pfeilen an der Wand zu seinem »neuen Zimmer« geleitet hatten. Diese Aktion war Ausdruck einer gewissen Wut, die sich bei den anderen aufgestaut hatte. Der spätere Täter hatte wiederholt gegen Regeln verstoßen, weswegen die ganze Gruppe zum Beispiel mit Fernsehverbot belegt worden war. Anscheinend wollten sie sein fortgesetztes Fehlverhalten nicht länger mittragen. Im Übergabeprotokoll las sie außerdem, dass Kevin nach einer telefonischen Auseinandersetzung mit seiner Mutter den Apparat an die Wand geworfen habe. Der Junge war also durch zwei Ereignisse frustriert. In diesem Augenblick erreichte sie ein Notruf aus der Küche. Kevin habe sich verletzt und würde bluten. Als sie in die Küche kam, sah sie den Jugendlichen über das Spülbecken gebeugt. Sie vermutete, er habe sich massiv geschnitten und würde die blutende Hand daher über das Becken halten. Sie eilte auf ihn zu, um ihm zu helfen. In diesem Moment drehte er sich ruckartig um und rammte ihr mit voller Wucht ein großes Küchenmesser in den Bauch.
Das Gefühl, als sie verletzt
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