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Überlebensübungen - Erzählung

Überlebensübungen - Erzählung

Titel: Überlebensübungen - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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hatte, war der Regionalleiter der deutschen Polizei, Dr. Haas; der andere einer seiner
Assistenten, wie ich später erfuhr – die Situation ausgenutzt und mich mit Fußtritten traktiert. Damit reagierten sie nachträglich die Angst ab, die sie gehabt hatten, als sie diesen bewaffneten Burschen auftauchen sahen. Die junge Deutsche dagegen, die Dolmetscherin, stieß unentwegt weinerliche kleine Schreie aus und verlangte eine Tassen Lindenblütentee. Von wem denn, großer Gott? Wer hätte ihr den bringen sollen? Es brachte mich fast zum Lachen, dieses in ihrem Mund immer wiederkehrende Wort, Lindenblütentee : ein so köstliches, zartes, musikalisches Wort in einem solchen Kontext!
    Nachdem sie sich mit Fußtritten von ihrer nachträglichen Angst befreit hatten, durchsuchten mich die Typen von der Gestapo.
    An jenem Tag – und das war meine zweite Chance, die erste war der berufliche Reflex gewesen, der den Gestapomann veranlasst hatte, mich niederzuschlagen, statt mich zu erschießen –, an jenem Tag hatte ich meine echten Papiere bei mir: eine vollkommen reguläre, ein Jahr gültige französische Aufenthaltsgenehmigung mit meinem legalen Wohnsitz bei meiner Familie, 47, rue Auguste-Rey in Gros-Noyer-Saint-Prix (Seine-et-Oise), sowie eine Bescheinigung des spanischen Generalkonsulats in Paris, die meine Nationalität attestierte.
    Denn die MOI hatte seit langem präzise Anweisungen gegeben: alle Aktivisten, die die Möglichkeit dazu hätten, sollten sich bei den franquistischen Konsulaten einschreiben lassen, um von der spanischen Staatsbürgerschaft zu profitieren und ihre Untergrundtätigkeit besser zu tarnen.
    Ich war neunzehn Jahre alt, hatte einen ziemlich berühmten Nachnamen, war weder vorbestraft noch politisch aufgefallen und hatte folglich keinerlei Schwierigkeit gehabt, meine konsularische Akkreditierung zu erhalten. In jenem Jahr, 1943, hatte ich mich für mein zwanzigstes Lebensjahr sogar beim Musterungsausschuss meines Jahrgangs gemeldet und war höchst offiziell vom Konsulat vom Militärdienst freigestellt worden.
    Und auch wenn Jean-Marie Action mir einen falschen französischen Ausweis besorgt hatte (Gérard Sorel, Gärtner, geboren in Villeneuve-sur-Yonne), benutzte ich doch lieber meine echten Papiere, da mir dieser Ausweis kein Vertrauen einflößte: die Fälschung schien mir in die Augen zu springen.
    Überdies hatte ich an jenem Septembertag einen zusätzlichen Grund, meine echten Papiere vorzuzeigen: nach meinem Ausflug nach Laroche-Mignennes auf der Suche nach Georges V . sollte ich nach Paris fahren, um »Paul« und »Mercier« (Pseudonym von Michel H.) zu treffen. Und in Paris kam es nicht in Frage, mit einem derart schlampigen Ausweis unterwegs zu sein: bei der ersten Passkontrolle wäre ich aufgeflogen!
    Alle drei hatten wir den Fall von Alain zu besprechen.
     
    »Ich habe ihn selbst erschossen«, murmelte Frager ein Jahr später in Buchenwald.
    Alain, sagte ich ihm an jenem Sonntag nach dem Appell, hatte sich geweigert, über die Waffen- und Munitionslager der AS Auskunft zu geben, die die Gestapo so leicht entdeckt hatte. Er hatte uns sagen lassen, wir sollten ihm
den Buckel runterrutschen. »Sag ihnen, sie können mir den Buckel runterrutschen!«, das war die Botschaft, die Corinne uns ausrichten sollte. Wir gingen ihm auf den Wecker, so war das. Es war beschlossen worden, ihn bei der ersten Gelegenheit umzulegen.
    Aber es hatte sich keine Gelegenheit ergeben. Man hatte auch keine herbeiführen können. Und die Gestapo war bei Irène aufgekreuzt.
    »Ich habe mich gefragt, ob nicht er euch angezeigt hat … Er hat wohl begriffen, dass ihr ihn entlarven würdet, und ist euch zuvorgekommen …«
    Ich sagte nichts, es gab nichts zu sagen.
    Gemeinsam haben wir schweigend die Herbstsonne betrachtet, den grauen, leichten Rauch des Krematoriums.
    Einige Jahre später hat mir ein ehemaliges Mitglied des Netzes, das ich zufällig während eines Kolloquiums von Psychoanalytikern über die Erinnerung an die Deportation getroffen habe, ein weiterer Überlebender von Jean-Marie Action, Fragers Ende erzählt.
    Zwar wusste ich das Wesentliche. Ich wusste, dass er nach der Isolationszeit in Block 42 geschickt worden war. Dort hatte ich ihn getroffen. Ich wusste, dass die Gestapo ihn ein paar Wochen später dort abgeholt und hingerichtet hatte. Und während dieser Wochen hatte ich ihn regelmäßig gesehen.
    Eines Tages, als ich an meinem Arbeitsplatz vor der Zentralkartei des Lagers saß, sah ich,

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