Überlebensübungen - Erzählung
möglich? Zweifellos.
Und welche Moral lässt sich aus der genannten Erfahrung auf einer Reflexionsebene ableiten, die über die bloße Aufzählung der Fakten und der Leiden hinausgeht? Welche Normen für künftiges Handeln?
Jedenfalls – und dies ist eine der Schlussfolgerungen, zu
denen wir, Frager und ich, an jenem Sonntag in Buchenwald gelangt waren – wäre es für ein gerechtes Verständnis des möglichen Humanismus des Menschen absurd, ja verhängnisvoll, den Widerstand gegen die Folter als absolutes moralisches Kriterium zu betrachten. Ein Mensch ist nicht deshalb wahrhaft menschlich, weil er der Folter widerstanden hat, das wäre eine außerordentlich vereinfachende Regel. Die im eigentlichen Sinn menschlichen Werte und Tugenden – das heißt die hinreichend grundlegenden, um die Transzendenz eines Ideals des altruistischen, mit kollektiven Zukunftsvisionen beauftragten Ichs zu begründen – lassen sich nicht allein mit der Elle der Widerstandsfähigkeit unter der Folter messen.
Natürlich neige ich dazu, wenn ich nach so vielen Jahren den wesentlichen Inhalt meiner Gespräche mit Henri Frager an einigen Sonntagnachmittagen in Buchenwald in Erinnerung rufe, all das, was damals nur ein Austausch leidenschaftlicher Worte, erlebter Erfahrungen in der zusammenhanglosen Unmittelbarkeit ihrer Formulierung war, auf systematische, begrifflich hierarchisierte Weise zu formulieren.
Vermutlich war es an jenem Tag, jedenfalls an einem jener Sonntage im Herbst 1944, dass Frager mir von Jean Moulin erzählte, mir von dessen Rolle bei der Einigung der Widerstandsbewegungen erzählte; er erzählte mir von den Umständen des Verrats, unter denen Moulin von der Lyoner Gestapo verhaftet wurde, er erzählte mir von Klaus Barbie.
Wir befanden uns im Saal der Arbeitsstatistik, fast allein –
wenn ich mich recht erinnere, war außer uns beiden nur der alte Walter anwesend, der die Sonntagsausgabe des Völkischen Beobachters oder vielleicht die Wochenzeitschrift Das Reich las. Und Walter, ein kommunistischer Veteran, hätte durchaus an unserem Gedankenaustausch über die Erfahrung der Folter teilnehmen können: sein Kiefer war in den dreißiger Jahren während eines Verhörs der Gestapo zertrümmert worden – fast allein also, als Frager mir von Klaus Barbie erzählte.
Der Name war mir nicht unbekannt.
Kurz vor meiner Verhaftung hatte ich von Klaus Barbie gehört. In Lyon hatte er Jean-Marie Soutou verhört, meinen Schwager, der mit Abbé Glasberg den jüdisch-christlichen Freundeskreis gegründet hatte, der viele jüdische Kinder rettete. Nicht nur Kinder übrigens.
Barbie hatte Soutou verhaftet. Anscheinend war es Kardinal Gerlier, durch dessen direkte und dringliche Intervention er freigelassen wurde. Worauf Soutou, ein Kenner der Gestapo-Methoden, mit meiner Schwester Maribel heimlich in die Schweiz entkam.
Kurz, der Name Barbie war mir nicht unbekannt, das wollte ich betonen.
Jean Moulin also, erzählte mir Frager, war von Barbie gefoltert worden, dem es nicht gelang, ihm ein einziges Wort, einen einzigen Namen zu entreißen, nicht einmal den eigenen.
Doch eines Tages, nach wochenlangem Leiden, als es Barbie auf anderen Wegen als dem Verhör seines Gefangenen, aufgrund anderer Informationen, anderer Preisgaben oder Verrätereien gelungen war, ihn zu identifizie
ren, hielt er ihm triumphierend ein Stück Papier hin, auf das er seinen richtigen Namen geschrieben hatte, jedoch mit falscher Orthographie: Moulins.
Da streckte Jean Moulin, physisch zerbrochen, zerstört, aber seelisch unversehrt, die Hand aus und tilgte dieses nutzlose »s«.
Da: Moulin!
Ich kenne keine erhabenere, bedeutsamere Geste für die Fähigkeit des Menschen, seine Menschlichkeit zu behaupten, indem er über sich hinauswächst. Hinauswächst über seine Endlichkeit, seine elende conditio humana .
Nach diesem Bericht herrschte zwischen Frager und mir Schweigen. Doch ein mit brüderlichen Schatten bevölkertes Schweigen. Tatsächlich waren wir uns einig an jenem Tag: die Erfahrung der Folter ist nicht allein, vielleicht nicht einmal hauptsächlich die Erfahrung des Leidens, der entsetzlichen Einsamkeit des Leidens. Sie ist auch, und sicherlich vor allem, die Erfahrung der Brüderlichkeit. Das Schweigen, an das man sich klammert, auf das man sich die Zähne zusammenbeißend stützt, wobei man versucht, mit Hilfe der Phantasie oder des Gedächtnisses seinem Körper, seinem elenden Körper zu entfliehen, dieses Schweigen ist voll
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