Überlebensübungen - Erzählung
wie der Kohledurchschlag einer neuen offiziellen Mitteilung der Gestapo eintraf. Ein winziges Blatt im Wust der Kommuniqués und Mitteilungen aller Art, in denen sich die Bewegung des
Lebens in Buchenwald widerspiegelte. Natürlich auch des Todes.
Ankunft von Transporten, Abtransporte zu Außenkommandos, Arbeitszuweisungen, Aufnahmen in den Krankenbau, vorübergehende Freistellungen wegen Krankheit, Todesfälle: alle Informationen, die den täglichen Stand der Produktionskraft der Zwangsarbeit betrafen, wurden auf diese Blätter eingetragen.
Und plötzlich meldeten inmitten all dieser amtlichen Papiere ein paar dürftige Zeilen den Tod von Henri Frager.
Entlassen: das war die übliche Formel der SS -Verwaltung bei einer individuellen Hinrichtung.
Und ich erinnerte mich an unser letztes Gespräch am Sonntag zuvor.
Henri Frager sprach mit gedämpfter Stimme.
Wir befanden uns im Saal der Arbeit, der zu dieser sonntäglichen Mußestunde menschenleer war.
Wir werden überleben, sagte Frager, jedenfalls einige von uns werden überleben. Wir werden, die Überlebenden werden ordensgeschmückte, weißhaarige alte Herren werden, bei mehr oder weniger schlechter Gesundheit, gleichwohl respektiert. Wir werden verschiedenen Clubs oder Vereinen angehören, vielleicht Verwaltungsräten vorsitzen, Sitzungsgelder kassieren – stellen Sie sich vor, Gérard! Sitzungsgelder für unsere reine Anwesenheit, obwohl wir in Wahrheit nur die Abwesenheit verkörpern – na schön, gut, in Ordnung, wir werden angesehene Leute sein, wenn wir überleben: Wohlhabende, das ist nahezu unvermeidlich … Aber wo und wann auch immer, bei
jedweder Gelegenheit, ob bei einem Bankett von Ehemaligen irgendeines großen Gymnasiums, von irgendwelchen Preisträgern, bei einem Freundschaftstreffen dieses oder jenes Netzes, werden sich einige von uns plötzlich in einem Augenblick wahren Andenkens, wahrer Gemeinschaft an einem Tisch wiederfinden, auch wenn das Leben, die Politik, die Geschichte uns getrennt haben sollten, auch wenn sie uns entzweien, und dann werden wir in einer Art fröhlichem Entsetzen, befremdlichem Jubel feststellen, dass wir alle etwas gemeinsam haben, ein Gut, das nur wir besitzen, so etwas wie ein dunkles und strahlendes Jugend- oder Familiengeheimnis, das uns ansonsten vereinzelt, das uns jedoch auf diesen präzisen Punkt der Gemeinschaft der Toten, der normalen Sterblichen verweist: die Erinnerung an die Folter.
Die Erfahrung der Folter, hatte ich gedämpft wiederholt.
Im ersten Moment war es mir nicht gelungen, mich alt, ordensgeschmückt, ehrenwert zu sehen. Aber der Gedanke, dass uns die Erinnerung an die Folter gemeinsam wäre, erschien mir zutreffend. Dieser Gedanke – da es ein Gedanke war, eine Möglichkeit, eine düstere, aber glänzende Perspektive, bevor er zuerst Realität, dann unauslöschliches Erlebnis wurde –, diese Wahrheit der Folter wird also meine Beziehung zu Frager begleitet, geprägt haben, seit dem Gespräch in einer luxuriösen Wohnung an der Porte des Ternes in Gegenwart von »Tancrède« bis zu jenem Sonntag in Buchenwald.
Ich hatte ihm dann ausführlich von meiner Folter-Erfahrung erzählt. Im Übrigen ist er der einzige Mensch auf der Welt gewesen, mit der ich etwas detaillierter, oh
ne Selbstgefälligkeit und ohne Schönfärberei, darüber gesprochen haben werde.
Mit wem werde ich diese Erinnerung, diese Erfahrung wachrufen können, jetzt, da er tot ist? Werde ich auf den Zufall eines Veteranentreffens warten müssen – und aus welchem unwahrscheinlichen Anlass, bei welch unwahrscheinlicher Gelegenheit? Ich meide sie wie die Pest! –, eines Treffens ordensgeschmückter, weißhaariger ehemaliger Widerstandskämpfer, die in ihrem Abscheu vor dem Lauf der Welt, ihrem Unverständnis vielleicht wie gelähmt sind.
Ich sehe wirklich nur eine, eine einzige noch heute äußerst lebendige Person, mit der es weder unmöglich noch unangebracht wäre, diese Erfahrung zu erwähnen: Stéphane Hessel. Freilich haben wir uns bei unseren Begegnungen so viel zu sagen, dass uns dieses Wiederkäuen der Vergangenheit nicht einmal in den Sinn kommt. Keine Zeit, darauf zurückzukommen, wenn das Leben uns so viel Gesprächsstoff, so viele Themen der Bewunderung oder des Zorns liefert.
Dennoch muss ich ein paar Worte darüber sagen, um es hinter mich zu bringen, da es hier mehr um eine Art Reflexion geht als um einen einfachen autobiographischen Bericht, um eine am Anfang zu ziehende Bilanz. Ist eine Bilanz
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