Überm Rauschen: Roman (German Edition)
Karton neben meinen Schreibtisch legte.
Der Zug fuhr aus Köln hinaus. Im Abteil saßen amerikanische Soldaten, die unterwegs zur Airbase waren, und junge Leute, die von einem Rockkonzert kamen. Die Bahn rollte durch Containerbahnhöfe, durch Vorstädte und immer weiter ins Umland. Saatkrähen flatterten über abgeernteten Feldern, es regnete, später schimmerte die Sonne durch die Wolken. Von Uferbäumen fielen Blätter auf das ruhig dahinziehende Wasser. Schulkinder kamen ins Abteil. Ich dachte, dass es nicht mehr lange bis zum Winter sein würde, wie schnell waren die Jahre vergangen, bald würde ich alt sein, nichts bliebe als verblassende Erinnerungen. Ich dachte, dass es schön sein könnte, im Fluss zu stehen und zu fischen. Ich nahm mir vor, Hermann als Erstes zu fragen, ob er mit mir fischen geht.
Als der Zug in unsere Gegend kam, stiegen Leute ein, die zum Wochenmarkt fuhren. Früher war an Markttagen immer viel Betrieb in unserer Gaststätte gewesen. Ich erinnerte mich, dass Tante Reese früher einmal gesagt hatte, während ihrer Jugend seien Leute aus dem weiten Umkreis zum Vieh- und Haushaltsmarkt hierhergereist. Damals seien die Geschäfte gut gegangen – auch nach dem Krieg, als amerikanische Soldaten in der Eifel stationiert waren. Reese erzählte damals auch von der Zeit vor dem Krieg: von Mausefallenhändlern, Wahrsagern und Wunderheilern, von Zirbes, der mit Ton- und Töpferwaren und selbst gereimten Liedern von Markt zu Markt zog, und von Jugendfreundinnen, die GIs heirateten und mit ihnen nach Amerika auswanderten, von Onkel Jakob, der an einem Markttag aus der Gefangenschaft zurückkam.
An solch einem Markttag waren Hermann und vielleicht auch ich, wie Reese meinte, gezeugt worden, von einem Mann, der den Bauern das von Bomben zersplitterte Holz ihrer Wälder abkaufte und an Holzfabriken weiterverhökerte. Später muss dieser Mann noch ab und zu in unserer Gaststätte aufgetaucht sein, wenn er mit dem Perseus, einem elektrischen Akupunkturgerät, durch die Eifel reiste. Mutter hatte ihn nicht heiraten wollen, er war bedeutend älter gewesen und hatte schon Frau und Kinder – «das war ein Dummkopf, nich’ mal seinen Namen konnte er richtig schreiben», war Reeses Meinung. Mutter redete nie über ihn, alles, was wir über ihn wussten, stammte von Tante Reese. Mutter meinte, wenn Hermann oder ich sie nach unseren leiblichen Vätern fragten: «Es hat alles keine Bedeutung. Reese soll nicht so viel dummes Zeug reden.» Aber Reese hörte nicht auf Mutter und erzählte uns immer wieder Dinge, die wir nicht wissen sollten.
Der Zug fuhr dicht am Fluss entlang, ratterte durch Dörfer und am Zementwerk vorbei, in dem unser Vater und später auch Hermann notgedrungen gearbeitet hatten. Vater hatte als Hilfsarbeiter an den Drehmühlen und Klinkersilos geschuftet, immer dort, wo der Meister gerade jemanden für die Drecksarbeit benötigte. Er hasste diese Arbeit, aber er musste Geld hinzuverdienen, die Gastronomie brachte, besonders im Winter, nicht genug ein. Als er Mutter heiratete, dachte er, er könne nur noch angeln, müsse sich nebenher ein wenig ums Geschäft kümmern und abends in der Gaststätte einige Stunden gesellig hinter der Theke stehen. Aber er hatte sich getäuscht, wie in so vielen anderen Dingen.
Einige Kilometer vor unserem Städtchen wird das Tal so eng, dass sich zwischen die Gleise und Berghänge nur noch der Fluss zwängt. An die Sandsteinfelsen krallen sich Robinien, Kiefern und Eschen, deren Zweige bis zur Flussmitte reichen. Vater hatte uns erklärt, dass diese Bäume mit ihren Zweigen die Fische füttern, weil winzige Käfer von Zweigen und Blättern in den Fluss hinabfielen. Der Fluss ist an dieser Stelle sehr tief und scheint völlig stillzustehen. «Die Fische haben hier ihre Ruhe», hatte Vater uns erzählt.
Im Zug erinnerte ich mich, wie wir zum ersten Mal mit Vater Fliegenfischen gegangen waren. Er hatte uns frühmorgens geweckt, es war noch dunkel draußen. Als wir runterkamen, hatte er schon Kaffee aufgebrüht und Rührei gemacht. Wir hörten Radio, während Vater die Lokalzeitung las und wie immer über reaktionäre Artikel schimpfte; Vater fand alle Politiker korrupt und reaktionär, er war Anarchist, las Bakunin, Lenin und Max Stirner. Vater redete von der Weltrevolution, schimpfte darüber, dass es so nicht weiterginge, dass wir in einem System lebten, das den Kern seines eigenen Unterganges in sich trage. Ich frage mich jetzt, ob sich daran
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