Überm Rauschen: Roman (German Edition)
Vaters Tod hatte Mutter ihren ersten Schlaganfall, danach wurde sie vergesslich, die Gaststätte war bald heruntergewirtschaftet. Alle Haushaltshilfen kündigten nach kurzer Zeit. Mutter kam mit niemandem zurecht, aber auch nicht mehr allein. Die Schwestern wohnten, ebenso wie Alma und ich, schon lange nicht mehr im Hause.
Eines Abends stand Hermann in der Gaststätte, er war jetzt Mitte dreißig, trug einen Vollbart, hatte einen großen Seesack auf der Schulter, in dem sich kleine, ausgestopfte Alligatoren, afrikanische Holzfiguren und eine Kette für Alma zwischen seinen Klamotten befanden. Mutter erkannte ihn zuerst nicht einmal, so sehr hatte er sich verändert. Damals waren wir alle heilfroh, als wir hörten, dass er wieder aufgetaucht sei, die Gaststätte übernehmen und sich um Mutter kümmern, den Betrieb wieder ordentlich führen wollte; es sollte so sein, wie es früher einmal gewesen war. Ich erinnere mich daran, in dieser Zeit einige Male mit ihm telefoniert zu haben. Er war enthusiastisch, hatte große Pläne und erkundigte sich nach Alma. Ich hatte lange nichts mehr von ihr gehört, wir wussten nichts von ihr, vielleicht war sie verheiratet oder lebte in Paris. Hermann renovierte von seiner gesparten Heuer die Gästezimmer, pachtete von der Gemeinde wieder den Fluss, kümmerte sich um den Besatz mit Fischen. Abends stand er auch noch hinter der Theke. Auf einer Kassette, die er mir in dieser Zeit geschickt hatte, ungefähr ein halbes Jahr nachdem er wieder zu Hause war, sagte er, dass Alma wieder da sei und sie heiraten wollten, wenn das Geschäft besser ginge – aber es lief nicht besser: Hermann musste wieder im Zementwerk arbeiten. Das Werk bezahlte auch Hilfsarbeiter gut, er verdiente dort mehr, als die Gaststätte einbrachte. Meist hatte er Nachtschicht. Wenn er morgens zurückkam, holte er für die paar Gäste die Frühstücksbrötchen bei Simons, half Alma beim Zubereiten des Frühstücks, danach ging er einige Stunden an den Fluss. Wenn er zurückkam, half er Alma wieder im Haus.
So vergingen fast zehn Jahre, ein großer, ruhiger Fluss voller Zeit. Hermann schickte mir weiterhin Kassetten. Die letzten Jahre lebten Alma und er nur mehr nebeneinander her, Hermann war wieder in ein Gästezimmer gezogen, Alma hatte andere Liebhaber, Salm, Siegmar, durchreisende Vertreter. Oft, wenn Hermann seine Kassetten besprach, saß er auf dem kleinen Balkon seines Zimmers über dem Fluss, ich hörte den Rauschen im Hintergrund. Ich glaube, er hatte niemanden, mit dem er reden konnte, der ihm zuhörte, vielleicht hat er deswegen diese Kassetten besprochen, so wie andere Leute Tagebuch schreiben oder malen. Mittlerweile hatte ich eine ganze Kiste davon. Auf einer Kassette spricht er von unserem mutmaßlichen leiblichen Vater, dem Perseus-Verkäufer, der in die Gaststätte gekommen war, an der Theke saß, die ganze Zeit nur vom Perseus redete, diesem seltsamen Wundergerät, das alles heilen könne.
Im Fluss stehend, warte ich auf Erinnerungen und einen großen Fisch, der anbeißt.
Als Mutter einige Jahre später ihren zweiten Schlaganfall erlitt, musste sie ins Stift – sie kam zu Hause nicht mehr zurecht. Ich erinnere mich, wie Hermann anrief und mich fragte, ob er sie dort unterbringen solle. Im Grunde war es mir völlig egal, ich wollte sowieso nichts damit zu tun haben. Hermann brauchte Geld für Mutters Pflege und die Unterbringung im Stift, ich schickte ihm etwas Geld. Auch als es mir beruflich schlecht ging und ich kaum genug für die Miete hatte, überwies ich ihm meinen Anteil, weil ich nichts damit zu tun, aber ein reines Gewissen haben wollte. So vergingen einige Jahre, in denen ich nichts von Hermann hörte. Hin und wieder schickte er mir Kassetten, die ich meist ungehört zur Seite legte. Nur wenn ich betrunken nach Hause kam, hörte ich sie, griff wahllos in die Kiste, steckte eine Kassette in einen Rekorder, warf mich aufs Bett und schlief ein. Manchmal wachte ich dann mitten in der Nacht auf, meinte, wie früher als Kind im Bett zu liegen, die Leute unten in der Gaststätte und den Rauschen zu hören.
24
Da die Felsen hier an beiden Ufern fast senkrecht aus dem tiefen Wasser ragen, muss ich den Fluss verlassen. Es gibt nur einen Pfad, der steil in den Wald hinauf und nach einigen hundert Metern wieder zum Ufer hinunterführt. Oben im Wald verschnaufe ich, blicke flussabwärts zum Zementwerk, das wie eine Burgruine in einer Talmulde liegt, sehe den hohen Turm des Kalkstaubsilos, in
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