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Überman

Überman

Titel: Überman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tommy Jaud
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ohne Annabelle, und zum ersten Mal bin ich nicht damit beschäftigt, möglichst schnell wieder herauszukommen, zum ersten Mal schaue ich mich um und staune über die schiere Größe des Kellers, der sich in zwei Bereiche zu teilen scheint: Gleich rechts vom Treppenhaus geht es in den höchsten Raum, an dessen Wänden gut und gerne einhundert leere, heuballengroße Metall-Weinfässer aus vergangenen Zeiten stehen und die meisten deutschen Weine. Der Hauptbereich des Gewölbekellers ist von Treppenhaus und Lastenaufzug durch eine bis zur Decke ragenden Glaswand abgetrennt (Feuerschutz?), die man durch eine der beiden abschließbaren Flügeltüren passiert. Steht man mit dem Rücken zur Flügeltür, hat man auf der Fläche von gut und gerne zwei Tennisplätzen die gesamte Welt der Weine vor sich, welche rechts mit Italien beginnt und links mit der Servicetheke samt Probeausschank und Österreich. Ganz am Stirnende des Gewölbekellers, wo ich jetzt stehe, also noch hinter Argentinien und Chile, befindet sich die »Schatzkammer«, ein sanft beleuchteter Raum, dessen Mitte eine lange, blankpolierte Holztafel ziert.
    Noch immer bin ich müde. So müde, dass ich versuche, mein Gesicht mit einer Grimasse wachzuziehen.
    Vorsichtig stelle ich den Wildgans-Rotwein zurück auf den Weinkarton. Ich schiele auf mein Handy. Auch hier kein Empfang. Gut für den Fall, dass jemand auf die dumme Idee kommen sollte, Hilfe zu rufen. Ich trete ein paar Meter zurück und betrachte den Notausgang. Die Weinpaletten links und rechts von der Tür sind durchaus so hoch, dass die Tür komplett dahinter verschwinden würde. Mit einem der gelben Hubwagen könnte ich sie dahin bugsieren. Das grüne Notausgang-Leuchtschild müsste ich natürlich kaputtklopfen, und das wär’s dann auch schon, denn durch eine Tür, die man nicht sieht, kann man auch nicht gehen. Ich ergänze meine Kugelschreiber-Skizze und schaue auf, ob mich jemand beobachtet. Das Personal scheint mit anderen Dingen beschäftigt.
    Neugierig schaue ich durch eine große, schwarze Gittertür in die Schatzkammer. Hier finden sicherlich die Weinproben statt. Ich skizziere den Raum grob in meinem Überman-Notizblock und widme mich dann der Inspektion der anderen Kellerseite, die mit der Region Burgund beginnt und an deren Ende sich ein geräumiges Seitengewölbe öffnet, das ausschließlich für Bordeauxweine reserviert zu sein scheint. Als ich eine der Holzkisten hochhebe, sehe ich, dass die Kiste darunter leer ist. Sehr gut. Ich entdecke auch einen alten Wasserhahn an einer gemauerten Säule. Sobald weder das Personal noch ein echter Kunde in meine Richtung schaut, drehe ich ihn kurz auf. Ein Schwall Wasser gurgelt auf den Boden, es sieht okay aus. Ich halte meinen Mund in den Strahl und nehme einen Schluck. Schmeckt auch okay. Ich drehe den Hahn ab und notiere: Trinkwasser im Bordeaux.
    »Schmeckt’s?«
    Ich reiße meinen Kopf herum, und weil ich mich so schnell bewegt habe, wird mir augenblicklich schwindelig. Da steht ein dürrer, kleiner und vor allem sehr hässlicher Angestellter mit rötlichem Haarkranz und großer Nase und betrachtet die Wasserlache auf dem Fliesenboden. Ich kenn ihn irgendwoher. Er mich offenbar auch, denn sonst würde er nicht grinsen.
    »Sie ändern sich auch nie, oder?«
    Ich gehe so weit zurück, bis ich eine Palette Wein im Rücken spüre. »Wie?«
    »Der Bio-Supermarkt vor fünf Jahren? In Sülz? Da haben Sie für uns die Feedback-Zettel unserer Kunden beantwortet.«
    Jetzt weiß ich wieder, wer das ist.
    »Da stand aber auch ein Scheiß drauf!« Das da vor mir ist nicht nur der Bio-Supermarkt-Verkäufer, der mir meine Feedback-Zettel wieder abnehmen wollte, es ist auch der nassforsche Ikea-Zwerg, der mir meinen Single-Sessel verkauft hat vor gefühlten zwanzig Jahren. Zwerg Zwergan sieht aus wie immer, nur dass ihm Teile seiner roten Haare ausgefallen sind, vermutlich, weil sogar sie ihn zu hässlich fanden. Dafür hört er nun gar nicht mehr auf zu reden, ja, fast sieht es so aus, als würde er sich über das Wiedersehen freuen.
    »Und bei Ikea haben Sie sich geweigert, sich die Regalnummer zu merken, da haben Sie gesagt, das sei unnützes Wissen, das Sie nie wieder vergessen würden.«
    »Ich hab sie vergessen. Glücklicherweise.«
    »Es war die 30  C!«
    Eines weiß ich jetzt: Der Zwerg arbeitet nachts als Busfahrer. Und er wird einen langen, qualvollen Tod sterben.
    »Warum haben Sie das gesagt?«, schimpfe ich, »ich hab zehn Jahre gebraucht, um

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