Uebermorgen Sonnenschein - Als mein Baby vertauscht wurde
vielleicht ein dreiviertel Jahr alt«, erklärte meine Schwiegermutter.
Ich sah mir die Aufnahme genau an. »Das gibt es doch nicht! Du siehst ja genau aus wie Leni!«
Das Kindergesicht auf dem alten Foto war zu einer leichten Grimasse verzogen, genauso, wie Leni es manchmal machte.
»Ja, siehst du, das ist unser Kind! Leni ist nicht vertauscht!« Theodoras Stimme überschlug sich fast.
Die anderen Vergleiche mit den ganzen Fotos hatten mich bislang nicht überzeugt. Und wenn man Theodora und Leni heute nebeneinander betrachtete, glich die Kleine ihrer Oma auch nicht. Aber auf diesem Foto waren sie wirklich fast identisch.
Ich überlegte. Es kann doch nicht sein, dass sie sich so ähneln, obwohl keine verwandtschaftlichen Verhältnisse bestehen. So einen Zufall kann es nicht geben.
In dem Moment war das Foto ein Rettungsanker für mich – ein Beweis, schwarz auf weiß, so wie ich es immer brauche, um an etwas glauben zu können. Theodora war unendlich glücklich, dieses Foto gefunden zu haben. Mehr noch: Es erfüllte sie regelrecht mit Stolz.
Ich nahm das Bild und hing es mitten an unseren Kühlschrank. Jeder, aber auch wirklich jeder, der dieses Foto sah, meinte, dass wir uns nun keine Gedanken mehr machen müssten.
Nur eine Person fiel mit ihrer Reaktion aus dem Rahmen – meine Freundin Paula. Sie machte sich so ihre eigenen Gedanken. »Wenn es jetzt wirklich so ist und du Leni adoptieren willst und dann zwei Babys hast, dann hab ich fast alles da – ein Babybett, einen Buggy, einen Hochstuhl …, kann ich dir alles geben.«
Wäre es nach Paula gegangen, hätte sie schon in der Woche, in der wir noch auf das Ergebnis warteten, alles angekarrt. In ihrem Kopf hatte sie bereits alles organisiert und ein Traumbild unserer neuen Patchworkfamilie entworfen. Ich nahm es Paula nicht übel, denn ich wusste, dass sie, so wie wir alle, einfach nur überfordert war mit dieser Ausnahmesituation und dass sie mir nur helfen wollte.
Alles in allem ergänzten sich meine Freunde und Verwandten gegenseitig bestens, denn jeder hatte eine andere Idee oder einen anderen Ratschlag.
Bereits in dieser Woche schien sich viel in mir zu verändern. Von einem Tag auf den anderen war Leni nicht mehr das Geschwisterkind, das so nebenherlief. Ich nahm sie und ihre Existenz auf einmal viel bewusster wahr. Sobald sie wach war, holte ich sie auf meinen Arm und genoss jede Minute mit ihr. Das Stillen liebte ich am meisten, denn dabei war sie immer so verkuschelt und blickte mir so unschuldig in die Augen.
»Wer weiß, wie lange ich sie noch stillen kann. Sie ist so süß«, sagte ich mir und streichelte zärtlich ihren Kopf. Im nächsten Moment dachte ich aber auch: »Wenn Leni nicht mein Kind ist, dann hätte ich jetzt lieber mein richtiges Kind an der Brust liegen.«
Maria, eine Freundin, die ebenfalls so lieb war, mir fast einen ganzen Tag Gesellschaft zu leisten, war diejenige, die mir nahelegte, mich von einem Psychologen betreuen zu lassen.
»So was brauche ich nicht, ich krieg das schon alleine hin«, wehrte ich sofort ab.
Aber Maria ließ trotz ihrer ruhigen Art nicht locker. »Lass dir doch helfen. Ich kümmere mich auch gerne darum. Überleg’s dir.«
Ich lehnte dankend ab.
Doch schon am nächsten Tag spürte ich, wie sehr mich das Warten auf das Ergebnis belastete. Also rief ich Maria an und sagte ihr, dass ich ihr Angebot doch gerne annehmen würde. »Wer weiß, wofür ich es noch brauche.« Ich dachte mir, dass es auf keinen Fall etwas schaden könnte. Und wenn ich mich mit dem Psychologen nicht wohlfühlen würde, könnte ich es ja wieder sein lassen.
Maria setzte sich daraufhin sofort mit der Klinik in Verbindung und sagte, dass sie eine Freundin eines betroffenen Elternpaares sei und dass es doch nicht angehen könne, dass die Klinik keine Psychologen zur Verfügung stelle.
Doch das Landratsamt hatte schon längst in Kooperation mit der Klinik einen Krisenstab aus mehreren Psychologen zusammengestellt. Wenig später, nachdem Maria in der Klinik angerufen hatte, erhielt ich einen Anruf von dem Psychologen Michael Schmidt.
»Michael, das gibt es doch nicht«, begrüßte ich ihn erfreut. »Was für ein Zufall!«
Michael und ich kannten uns zwar nur flüchtig – er ist der Mann einer Freundin meiner Schwester, dennoch hatte ich gleich Vertrauen zu ihm und war froh, dass er mich betreuen würde.
Es war noch gar nicht so lange her, dass wir uns das letzte Mal gesehen hatten, nämlich ein paar Wochen zuvor auf
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