Uebermorgen Sonnenschein - Als mein Baby vertauscht wurde
und wollte sich nach uns erkundigen.
»Hier ist Martin«, hörte ich dann aber die Stimme meines Schwagers. »Jeannine, ich muss dir etwas sagen …« Das klang nicht nach Anteilnahme, sondern er schien selbst ein Problem zu haben. Seine Nachricht, die folgte, verschlug mir für einen Moment die Sprache. »Ann-Kathrin ist in der Homburger Uniklinik – mit Verdacht auf Leukämie. Ihre Leukozyten sind viel zu hoch. Michaela ist bei ihr …«
Hohe Leukos? Ann-Kathrin? In meinem Kopf begann es zu rattern. Sie wird bestimmt nur Pfeiffersches Drüsenfieber oder so etwas haben. Als MTA wusste ich, dass auch Viren für eine hohe Leukozytenanzahl verantwortlich sein können.
»Ganz bestimmt hat sie keine Leukämie«, sagte ich nun schnell. »Jetzt macht euch mal keine Sorgen. Das wird schon.«
Meine Nichte und Leukämie, das konnte nicht sein!
Wir verblieben, dass Martin uns sofort Bescheid geben würde, sobald sich Michaela mit Neuigkeiten aus der Klinik meldete. Auf unsere Geschichte gingen wir nicht näher ein, dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.
Nachdem ich aufgelegt hatte, saß ich dann doch einen Moment lang wie versteinert da. Ich hatte das Gefühl, in einem Film zu sein, es fühlte sich alles so unwirklich an. Gleich zwei solch heftige Schicksalsschläge in einer Familie zu haben, war unvorstellbar. Das war alles einfach nur unvorstellbar!
KAPITEL 15
S ie hat Leukämie.« Mehr brachte Martin am nächsten Morgen nicht heraus. Für Sekunden war nur ein leises Rauschen in der Leitung zu hören. Ich brauchte ebenfalls mehr als einen Augenblick, um mich zu fangen.
»Welche Form der Leukämie hat sie denn?«, hörte ich mich beinahe so sachlich wie eine Ärztin fragen.
»Akute lymphatische Leukämie«, antwortete Martin mit belegter Stimme. Ich merkte, wie er versuchte, seine Tränen zu unterdrücken.
»Gott sei Dank!«, rief ich, wusste ich doch, dass diese Form der Leukämie bei Kindern gute Heilungschancen hat, auch wenn es eine schwere Form ist. Noch immer wollte ich positiv denken und keine Panik aufkommen lassen. Ann-Kathrin würde das schon schaffen.
»Sie wird sofort ihre erste Chemotherapie bekommen …« Martin brach die Stimme weg.
Vielleicht war es, weil ich gerade wenig emotionale Kapazitäten hatte, aber ich machte mir in diesem Moment keine Gedanken darüber, was eine Chemotherapie mit all ihren Nebenwirkungen, Risiken und Folgen in dem zarten Alter von elf bedeuten würde.
Es ist schlimm , dachte ich, nachdem wir das Telefonat beendet hatten, aber es wird auf jeden Fall vorbeigehen.
Ich hatte auch wirklich genug mit unseren Problemen zu tun, mein Kopf war voller Fragen, Zweifel, Wünsche, Hoffnungen. Dank Ricardas Plan musste ich wenigstens keine Minute allein verbringen, dafür war ich ihr unendlich dankbar. Eine Freundin kam, und als ihre Zeit um war, stand die nächste als Ablösung schon vor der Tür. Es war eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Ralf tat es gut, dass er arbeiten gehen konnte. Es lenkte ihn ab. Es hätte uns beiden die Zeit nicht erleichtert, wenn wir aufeinandergehockt hätten. Da war mir mit meinen Freundinnen schon mehr geholfen.
Auffällig war allerdings, dass alle gleich reagierten, ähnlich wie damals im Krankenhaus. »Du hattest deine Zweifel, aber das muss ja nichts bedeuten« – bekam ich zu hören. »Jetzt warte erst einmal ab«, und: »Mach dich nicht verrückt, das geht bestimmt gut aus.«
Auch Hannah, meine Hebamme, reagierte erstaunlich gelassen, als sie von der Sache erfuhr. »Das ist doch dein Kind! Das kann einfach nicht sein, dass es vertauscht wurde. Außerdem war Ralf die ganze Zeit im Kreißsaal dabei.« Ich erklärte ihr, dass es meiner Meinung nach ja auch nicht im Kreißsaal passiert war, sondern während des Aufenthalts auf der Station. Doch Hannahs Zuversicht war nicht zu erschüttern. Wenn sie sich so sicher ist, dann hat sie ja vielleicht recht , hoffte ich insgeheim. Ich griff nach jedem Strohhalm.
Auch meine Schwiegermutter wollte hoffen können, dass ihre Enkeltochter ihre wahre Enkeltochter ist. Ganz aufgeregt und freudestrahlend kam sie auf einmal mit einem alten Kinderfoto zu mir.
»Das müsst ihr euch anschauen«, sagte sie völlig außer Atem, weil sie so schnell zu uns geeilt war. »Das kann kein Zufall sein!« Auf dem Schwarz-Weiß-Foto, das schon weit über fünfzig Jahre alt war, sah man die kleine Theodora in einem gehäkelten weißen Pullunder mit zwei großen weißen Schleifen an den Schultern. »Auf dem Bild bin ich
Weitere Kostenlose Bücher