Uebermorgen Sonnenschein - Als mein Baby vertauscht wurde
wahrscheinlich psychisch gestört war, weil sie vielleicht schon zehn Abtreibungen oder Fehlgeburten hinter sich hatte. Alles Gerüchte und Unsinn natürlich.
Im Laufe der Zeit habe ich mir meine eigene Version zurechtgelegt. Ich glaube, dass Leni und Angelina nebeneinander auf einem Wickeltisch lagen. Um sie zu beruhigen, wurden die schreienden Babys nachts gebadet. Dabei verloren sie ihre Namensbändchen, die ohnehin etwas zu locker saßen. Vielleicht kam es zu einem stressigen Moment, in dem das Telefon klingelte oder ein anderes Kind schrie, sodass eine Schwester kurz woandershin ging. Als sie wieder zurückkam, griff sie das falsche Bändchen, zog das Baby wieder an und legte es in das falsche Bettchen.
Ich hadere noch heute mit mir selbst, dass ich Leni nachts abgegeben habe – zumal ich ja ein ungutes Gefühl hatte, es zu tun. Im Grunde genommen war es völlig unnötig gewesen. Höchstwahrscheinlich wäre uns dieses Schicksal dann niemals widerfahren, wenn ich mein Kind in meinem Zimmer behalten hätte. Diese Gedanken sind zwar müßig, aber schwer ein für alle Mal abzustellen.
Außer mir selbst mache ich niemandem einen Vorwurf. Ich verstehe, dass mich mein Mann, meine Familie, meine Freunde und auch die Krankenschwestern in erster Linie beruhigen wollten, als ich meinte, das Baby im Bettchen meiner Tochter sei nicht mein Kind. Wenn man eine Kindsverwechslung nur aus Filmen kennt oder gar noch nie davon gehört hat, dann ist es naheliegend, solche Ängste und Zweifel völlig absurd zu finden.
Ich habe mit Ralf nie über die »Schuldfrage« gesprochen. Auch er hat dieses Thema niemals erwähnt, er hat sich auch niemals bei mir entschuldigt, dass er meine Zweifel nicht ernst genommen hatte. Auf seine Art und Weise hat er versucht, das Geschehene wieder etwas gutzumachen, indem er mich mit all seinen Kräften unterstützt hat. Ich weiß allerdings, dass ich an seiner Stelle ein fürchterlich schlechtes Gewissen gehabt hätte – auch, wenn ein schlechtes Gewissen nicht weiterhilft. Umso besser, dass unsere Rollen nicht vertauscht waren.
Viele fragen sich, ob mein Vertrauen in die Klinik nicht zerstört ist. Ganz im Gegenteil, kann ich nur sagen. Ich würde jederzeit wieder dort gebären. Der Skandal hat nämlich große sicherheitstechnische Veränderungen mit sich gebracht. Früher gab es eine Regel, wie viel Platz zwischen dem Namensbändchen und dem Arm des Babys sein durfte – nämlich der kleine Finger eines Erwachsenen. Laut der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe lösten sich viele Bändchen oder Ketten, die zur Neugeborenenidentifikation verwendet wurden, versehentlich ab. Das ergab eine Umfrage in Hunderten von Krankenhäusern. Kaum auszudenken, wie viele Vertauschungen aus diesem Grund vielleicht unbemerkt stattgefunden haben …
Mittlerweile gibt es in der Klinik, in der Lina geboren wurde, nicht nur Überwachungskameras auf der Säuglingsstation, sondern auch Doppelmarkierungen an Hand- und Fußgelenk des Babys. Außerdem trägt auch die Mutter ein Identifikationsband. Bei jedem Schichtwechsel der Schwestern werden die Namensbändchen auf ihren korrekten Sitz überprüft, alles muss schriftlich dokumentiert werden. Und die Schwestern dürfen nur noch der Mutter das Kind überreichen, nicht mehr dem Vater. Bei diesen hohen Sicherheitsvorkehrungen ist eine Verwechslung definitiv ausgeschlossen.
Häufig werde ich gefragt, ob die ganze Geschichte bei Lina Spuren hinterlassen habe. Ich bin mir sicher, dass es keine Spuren hinterlassen hat. Auch aus psychologischer Sicht habe ich diese Bestätigung bekommen. Lina ist ein fröhliches und ausgeglichenes Kind. Sie ist zwar ganz anders als ihre große Schwester, viel »kindlicher« und sensibler. Aber sicherlich wäre sie das auch ohne ihren schwierigen Start ins Leben. Sie hat auch keine besonderen Ängste, zumindest keine, die ich mit ihrem Schicksal in Verbindung bringen würde.
Mich indes hat unsere Geschichte schon verändert. Auf der einen Seite bin ich ängstlicher geworden, auf der anderen Seite aber auch viel stärker und selbstbewusster. Ich kann von mir selbst behaupten, dass ich über mich hinausgewachsen bin. Ich habe gelernt zu kämpfen, insbesondere, wenn es um das Wohl meiner Kinder geht. Ich verlasse mich mehr auf meine Intuition. Wenn ich heutzutage irgendwelche »Verdachtsmomente« hege, dann gehe ich der Sache nach und bin nicht mehr so kompromissbereit wie früher.
Rückblickend kann ich behaupten, dass
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