Uebermorgen Sonnenschein - Als mein Baby vertauscht wurde
betroffenen Elternpaaren sprechen zu können, um mit ihnen meine Ängste zu teilen. Natürlich war das allein schon aus Datenschutzgründen nicht möglich.
Michael erzählte mir, dass die Landrätin allen vierzehn Elternpaaren einen Besuch abstatten wolle. Michael meinte, ihr würde die Angelegenheit sehr nahegehen. Ich hatte nichts gegen einen Besuch von ihr einzuwenden, zumal sie eine frühere Bekannte meiner Mutter war.
Frau Koch, eine sehr große Frau mit Brille, kam uns zusammen mit der Sozialdezernentin Frau Kirch besuchen. Ralf setzte sich ausnahmsweise auch dazu. Normalerweise blieb er bei den Gesprächen mit Michael nie lange sitzen. Sobald Michael tiefer schürfte, ging er ins Bett mit den Worten, dass er müde sei und am nächsten Tag wieder arbeiten müsse. Bei diesem hohen Besuch hatte er allerdings keine Ausrede.
»Jeannine, ich erinnere mich noch gut, als Sie ein Kind waren. Und jetzt haben Sie selbst Kinder. Dass mit der Vertauschung ist so schrecklich. Es ist das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. So etwas ist in all meinen Berufsjahren noch nicht vorgekommen.« Sie sagte das nicht nur so daher, sie schien wirklich betroffen zu sein.
Mich interessierte nach wie vor hauptsächlich eine Frage: Wer beziehungsweise wie ist die andere Mutter?
»Da dürfen wir leider überhaupt keine Auskunft geben. Das müssen Sie verstehen. Ich darf auch bei Ihnen keine Ausnahme machen.«
Ich ließ jedoch nicht locker, denn das Schreckensbild der zugedröhnten Teeniemutter schwirrte permanent wie ein Geist in meinem Kopf herum. »Es würde mich nur interessieren, ob es eine junge Mutter ist«, sagte ich und hielt ihrem Blick stand.
Stille. Dann schauten sich die beiden Frauen kurz an.
Alles klar , dachte ich.
Frau Kirch fing sich als Erste. »Es ist egal, ob es eine junge Mutter oder eine in Ihrem Alter ist. Ich kann Ihnen nur eins sagen: Dem Kind geht es sehr gut. Es ist ein richtiger Wonneproppen.«
»Also es ist eine junge Mutter«, sagte ich mit fester Stimme.
»Machen Sie sich jetzt mal nicht verrückt. Das ist absolut irrelevant«, entgegnete Frau Koch.
Ich erzählte den beiden Damen von den Teenagermüttern im Krankenhaus und von meiner Angst, dass die andere Mutter dieses verwahrloste Mädchen sein könnte – und mein Kind bei ihr.
»Da müssen Sie sich keine Sorgen machen, so eine ist das nicht. Es ist alles ganz normal, und das Kind wird geliebt.«
»Ist die Mutter denn bei dem Kind?«, wollte ich wissen.
»Ja, sie ist immer bei dem Kind«, versuchte Frau Koch mich weiter zu beruhigen und tätschelte dabei meine Hand. Trotzdem ging mir diese Mutterfrage nicht mehr aus dem Kopf.
Nun brachte sich Ralf ein. Er meinte, dass es für ihn ohnehin nicht vorstellbar sei, Leni herzugeben. »Wenn wir es sein sollten, dann will ich nicht tauschen. Ich liebe sie doch.«
Ich sagte dazu erst einmal nichts. Für mich war schon zu diesem Zeitpunkt klar, dass ich unser leibliches Kind unbedingt wiederhaben wollte. Ich konnte den Gedanken nicht aushalten, dass mein eigenes Kind nicht bei mir war.
Jetzt war ein guter Moment, um die Babyfotos zu holen. Frau Koch schaute sich alle an und schüttelte dann den Kopf: »Das ist doch ein und dasselbe Kind! Jeannine, das hier geht gut für Sie aus! Das habe ich im Gefühl.« Schon wieder nahm sie meine Hand. Sie war ungefähr die Hundertste, die sagte, dass es ein und dasselbe Kind sei und dass alles gut ausgehen würde. Selbstverständlich war mir klar, dass sie mich nicht besuchen kam, um noch mehr Panik bei mir zu schüren und um zu sagen: »Oh weh, ich hab ein ganz schlechtes Gefühl! Bestimmt wurde Ihr Kind vertauscht!« Sie wollte Ruhe in die Sache bringen, wohl auch, um das Warten erträglicher zu machen.
Ich erzählte ihr noch von meinen Zweifeln kurz nach der Geburt. Das schien sie nicht zu überraschen, wahrscheinlich hatte sie schon über Michael davon erfahren. Alles, was sie dazu sagte, war: »Man hätte Ihre Zweifel ernst nehmen müssen.«
Zum Abschied wiederholte Frau Koch ihre beschwörenden Worte. »Ich habe ein richtig gutes Gefühl, Jeannine.«
»Danke, es beruhigt mich, dass Sie das sagen« – und das tat es wirklich. Zumindest für diesen Moment.
In der folgenden Woche lief Leni mehr oder weniger nebenher mit. Ich war einfach zu sehr mit mir selbst beschäftigt, manchmal kam ich mir wie in Trance vor. Nur das Stillen nahm ich ganz bewusst wahr und stellte mich innerlich schon darauf ein, dass es eines der letzten Male sein
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