Überraschung kommt selten allein
Grüße,
Alberta
Alberta, inzwischen bei ihrem dritten Glas Wein, las den Brief noch einmal und überlegte, ob der letzte Satz nicht ein bisschen zu lang war. Sie ging ihn erneut durch und zerriss ihn sofort. Eigentlich sah sie nicht ein, warum sie so dankbar sein sollte. Sie hatte Daniel nicht darum gebeten , sie zu retten, und selbst wenn sie unhöflich gewesen war, er war schließlich noch unhöflicher gewesen. Sie sah ihn direkt vor sich, wie er schmierig grinsend ihre unbeholfenen Erklärungsversuche las.
Nach einem Omelette mit Pilzen, zwei weiteren Gläsern Wein und drei zerknüllten Versuchen war sie endlich zufrieden.
Lieber Daniel
Ich habe gehört, dass du meine Chefin angerufen hast und dich nach meinem unbeherrschten Verhalten am Freitagabend für mich eingesetzt hast. Ich möchte dir für deine Hilfe danken, auch wenn ich nicht darum gebeten habe.
Herzliche Grüße,
Alberta
Inzwischen war es Viertel nach elf. Alberta faltete den Brief schnell zusammen und steckte ihn in einen Umschlag. Sie griff nach ihrem Handy und schickte Tony eine SMS , in der sie ihn um Daniels Adresse bat. Morgen früh würde sie den Brief einwerfen und Daniel Driver vergessen.
Als sie am Freitagabend von der Arbeit nach Hause kam, wartete ein Brief auf sie.
Liebe Mrs. Granger,
Mr. Driver hat mich gebeten, Ihnen für Ihren Brief zu danken und Ihnen zu versichern, dass er sehr gerne geholfen hat.
Mit freundlichen Grüßen,
Merrily S. Trumpet.
Alberta stieß ein wütendes Knurren aus und zerriss den Brief in lauter kleine Teile.
Am Samstagmorgen, um zehn nach zehn, stieg Alberta aus dem Zug und schaute sich um. Sie hatte nicht gewusst, dass Bahnhöfe wie diese überhaupt noch existierten. Am Bahnhof Manningtree gab es nur zwei Gleise, und er war umgeben von Feldern. Sie konnte sich gut vorstellen, wie Die Eisenbahnkinder von Edith Nesbit hier spielten.
Alberta hatte während der ganzen Zugfahrt geprobt, was sie sagen wollte und wie sie es sagen wollte. Jetzt hatte sie noch fünfzig Minuten Zeit, und als sie ein Schild zu einem Fußweg entdeckte, beschloss sie, dass ein kurzer Spaziergang ihre Gedanken ordnen würde.
Die Bedingungen hierfür waren perfekt: blauer Himmel, hier und da ein Wölkchen und eine leichte Brise. Der Weg führte unter dem Bahnhof hindurch, und als sie aus dem alten, gemauerten Tunnel trat, erstreckten sich Felder zu beiden Seiten, und nur das Zwitschern der Vögel lenkte sie ab.
Als sie zu einem Schild kam, zögerte sie. In die eine Richtung ging es nach Flatford und in die andere zurück nach Manningtree. Sie hatte von Flatford gehört. John Constables berühmtes Gemälde vom Heuwagen war dort entstanden, und es hieß, es sei ein hübsches, unverfälschtes Dorf. Sie hatte die Wahl. Sie könnte einfach weitergehen und Flatford anschauen und den Besuch bei Miss Fullock absagen. Schließlich würde ein Gespräch mit ihr nur Leid und Ärger bringen.
Aber das war natürlich nicht ganz richtig. Miss Fullock könnte auch einige Antworten liefern. Alberta warf einen letzten Blick auf den mit Laub bedeckten Pfad vor sich, dann kehrte sie um und ging den Weg zurück, den sie gekommen war.
Sie fand das rosafarben gestrichene Cottage problemlos. Miss Fullocks Beschreibung war bewundernswert klar gewesen. Alberta öffnete das kleine Tor und ging den Weg entlang. Sie hatte keine richtige Vorstellung von der Frau, mit der sie sich traf. In ihrer Fantasie hatte sie zwischen einer kleinen, alten Dame, die spitzbübisch zwinkerte, einer Art fröhlichen Miss Marple, und einer älteren Schönheit mit einer Stimme wie Lauren Bacall geschwankt.
Die Frau, die ihr die Tür aufmachte, hatte mit keiner von beiden Ähnlichkeit. Sie hatte ein strahlendes Lächeln, einen üppigen Busen und kurze, graue Haare, und trug bequeme Schuhe, blaue Hosen und einen Wollpullover.
»Miss Fullock?«, fragte Alberta. »Ich bin Alberta Granger. Es ist wirklich nett, dass Sie Zeit für mich haben.«
Die Frau lächelte. »Ihre erste Mail hat mich neugierig gemacht … und auch ein wenig besorgt. Aber ich sehe, dass wir uns gut verstehen werden! Kommen Sie herein, dann koche ich uns einen Tee. Hogarth aus! Lass das!«
Hogarth, ein lebhafter Terrier, der offensichtlich von Albertas langer, grauer Strickjacke fasziniert war, bellte protestierend, ehe er seinem Frauchen in eine kleine, ockergelb gestrichene Küche folgte, von der eine Tür in einen kleinen Garten führte.
Alberta betrachtete den leuchtend roten Ahorn, die bunten
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