Überraschung kommt selten allein
objektive Einstellung gegenüber seinen Altersgenossen, der Schule und seiner Familie zu haben.«
»Die hat er mit Sicherheit«, stimmte Alberta ihr zu. Zwar war sie davon nicht völlig überzeugt, doch freute sie sich, dass Erica Jacobs Objektivität gut fand. In einer ihrer Mappen bewahrte sie einen Aufsatz auf, den er mit zehn geschrieben hatte. Das Thema lautete: »Meine Mutter«, und Jacob hatte das Werk in zwei Abschnitte unterteilt: Vorteile und Nachteile . Es gab fünf Vorteile und sieben Nachteile, einer davon war: »Meine Mutter hat kein großes Allgemeinwissen.« Wie ermutigend, dass Erica Jacobs abgeklärten Standpunkt lobenswert fand. Alberta wusste sehr wohl, wie glücklich sie sich preisen konnte, keinen typischen Teenager zum Sohn zu haben, der sie anschrie, so wie es ihr Neffe mit ihrer Schwägerin getan hatte. Andererseits war ihr Neffe zu einem charmanten jungen Mann herangewachsen. Und an Weihnachten hatte er seine Mutter sogar liebevoll in den Arm genommen. Alberta konnte sich nicht erinnern, wann Jacob sie das letzte Mal gedrückt hatte.
Sie entschied, dass sie genug über Jacob geredet hatten, und fragte Erica, wie ihr der neue Job gefiel. Erica erwiderte, sie fühle sich sehr wohl, allerdings fehlten ihr die Freunde aus der alten Schule in Northampton. Alberta hatte den Eindruck, dass es keinen Mr. Wright gab, wohl aber irgendwann einen Mr. Wrong gegeben haben könnte.
»Eigentlich bin ich froh, dass ich nach Bath gezogen bin«, sagte Erica. »Ich brauchte einen Tapetenwechsel.« Sie schob ihr Glas beiseite und legte die Arme auf den Tisch. »Sie haben eine Tochter, nicht wahr? Ich glaube, Jacob hat eine Schwester erwähnt.«
»Ja.« Alberta nickte. »Sie ist seine Halbschwester. Ich war schon einmal verheiratet, ehe ich Tony kennenlernte. Hannah, meine Tochter, lebt jetzt in London.«
»Dann verstehen Sie sicher, wie ich mich fühle. Eine Mutter-Tochter-Beziehung ist noch einmal etwas ganz anderes. Sadie erzählt mir alles.«
Alberta nickte weise, als verstünde sie genau, wovon Erica sprach, obwohl Hannah ihr in Wirklichkeit nie alles erzählt hatte, ja meistens eigentlich so gut wie gar nichts.
Erica trank einen Schluck Wein. »Wir waren jahrelang nur zu zweit. Ich hatte solche Angst vor dem Tag, an dem sie auf die Uni geht. Das war einer der Gründe, warum ich mir einen neuen Job gesucht habe. Sadie ist nach Nottingham gezogen, und ich hierher. Ich hatte anfangs so viel zu tun, dass ich mir gar keine großen Sorgen um sie machen konnte. Aber natürlich mache ich mir Sorgen. Bevor ich heute Abend wegging, hat sie angerufen. Sie klang schrecklich durcheinander. Sie hat irgendeinen Typen kennengelernt, und er hat sie versetzt. Sie sagte, sie hätte eine Ewigkeit vor dem Kino gewartet. Am liebsten wäre ich nach Nottingham gefahren und hätte ihn erwürgt.«
Wieder nickte Alberta, doch diesmal, weil sie es wirklich verstand. »Ich weiß, was Sie meinen. Man fühlt sich so hilflos! Hannah ist wirklich schlau, allerdings sucht sie sich immer Männer aus, die sie schlecht behandeln. Während der Schulzeit hatte sie einen Freund namens Martin. Er hatte wunderbare, blonde Haare – alle ihre Freunde sind blond –, aber ich habe nie kapiert, was sie außerdem an ihm fand. Statt zu reden, schien er eher zu grunzen. Ich habe nie verstanden, was er gesagt hat, und er hat sich anscheinend nie gewaschen , wenn Sie wissen, was ich meine. Sie hat ihn angebetet. Ich wusste, dass er ihr das Herz brechen würde, und das hat er getan. Und dann, in Oxford, lernte sie einen Jungen namens Ludovic kennen, der die schreckliche Angewohnheit hatte, jedes Mal süffisant zu grinsen, wenn ich etwas gesagt habe. Und wenn Hannah etwas gesagt hat, grinste er genauso süffisant. Er war ausgesprochen unangenehm.«
»Ist sie noch mit ihm zusammen?«
»Gott sei Dank nicht. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie mit jemandem zusammen, der ganz reizend ist. Er ist der Bruder ihrer besten Freundin, und ich kenne ihn, seit er ein kleiner Junge war. Ich bin sicher, Sadie wird auch jemanden finden, aber natürlich macht man sich trotzdem Sorgen.«
»Es wäre ja alles halb so schlimm«, sagte Erica, »aber dieser Junge war der Erste, den sie richtig mochte, seit sie auf der Uni ist. Sie dachte, sie hätte ihren Traummann gefunden.«
»Das kommt mir schrecklich bekannt vor«, antwortete Alberta und hielt inne, um einen Schluck Wein zu trinken. »Mir ist das Gleiche passiert. Es ist zwar länger als ein Vierteljahrhundert
Weitere Kostenlose Bücher