Überraschung kommt selten allein
für sich treffen. Auch der Staat erweist uns keinen Gefallen, wenn er davon ausgeht. Er sollte vielmehr die Menschen anstoßen , das Richtige zu tun. Mit anderen Worten, wenn man den Leuten sagt …«
»Wenn man den Leuten sagt, was sie tun sollen, tun sie es nicht«, fuhr Hannah dazwischen. »Das ist meine Erfahrung. Sag, was hat das alles mit Mum zu tun?«
»Dazu komme ich gleich«, sagte Jacob. »Aber findest du nicht, dass das ein interessanter Gedanke ist? Es gibt da ein interessantes Beispiel: Der Flughafen in Amsterdam wollte die Reinigungskosten in den Männertoiletten senken. Was haben sie gemacht? Sie haben keine Plakate mit der Bitte um mehr Sauberkeit aufgehängt. Stattdessen haben sie eine Fliege auf die Porzellanschüsseln der Urinale malen lassen. Als Folge verbesserte sich die Zielsicherheit beim Pinkeln um achtzig Prozent. Wie findest du das?«
»Ich finde es erstaunlich, dass du dir so etwas merken kannst. Und was hat das jetzt mit Mum zu tun?«
»Mum ist völlig fertig, weil Großvater gestorben ist. Und sie ist sogar noch mehr durcheinander, weil er unter Umständen gestorben ist, die vermuten lassen, dass er nicht so ein fantastischer Mensch war, wie sie glaubte. Mum liebt Western. In den meisten Western sind die Helden heroische Cowboys, die zwar tapfer sind, aber, und das ist entscheidend, auch irgendwelche Fehler haben. Ergo helfen die Western Mum, damit zurechtzukommen, dass ihr Vater ebenfalls Fehler hatte.«
»Jacob«, sagte Hannah, »ich hoffe, du bist immer in der Nähe, wenn ich dich brauche.«
»Das hoffe ich auch«, sagte Jacob. »Mein Handy klingelt. Willst du mit Mum sprechen? Sie ist im Bett. Ich bringe das Telefon nach oben. Bis bald …«
Es dauerte einige Sekunden, dann sagte eine schwache Stimme: »Hallo, Hannah.«
Hannah umklammerte ihr Handy. »Mum, es tut mir ja so leid! Jacob sagt, du liegst im Bett. Das ist gut. Es war sicher ein schrecklicher Schock für dich. Du musst dich ausruhen.«
»Alle sind so lieb zu mir. Evie kocht eine ihrer Suppen. Ich kann einfach nicht glauben, was passiert ist. Dein Großvater war so ein vitaler Mann. Ich konnte mir nie vorstellen, dass er einmal nicht mehr da sein würde.« Danach trat eine lange Stille ein, die Hannah nicht unterbrechen wollte. »Tony hat mir erzählt, du besuchst Marma. Das ist nett von dir.«
»Hast du schon mit ihr gesprochen?«
»Ich habe es versucht, aber nur den Anrufbeantworter erwischt.« Wieder eine lange Pause. »Ich werde es später noch mal versuchen, wenn meine Kopfschmerzen besser sind.«
»Hast du etwas dagegen genommen?«
»Er war ein wunderbarer Mensch, weißt du, Hannah, und er war so ein guter Vater. Ich hätte keinen besseren Vater haben können.«
»Und das darfst du nie vergessen. All das andere Zeug … ist nicht wichtig.«
»Es gibt kein anderes Zeug. Das ist alles ein Missverständnis. Du wirst sehen. Es ist ein Missverständnis.«
»Ja, aber ich will nur sagen, wenn es kein Missverständnis sein sollte …«
»Es ist eins. Heute Morgen habe ich High Noon geschaut. Hast du den je gesehen? Sicher hast du das.«
Hannah lächelte. »Natürlich. Du hast mich gezwungen, ihn mindestens tausendmal anzuschauen.«
»Genau so war dein Großvater. Wäre er in der Lage gewesen, hätte er dasselbe getan wie Gary Cooper.«
»Du hast recht. Selbst wenn Gary Cooper in High Noon zum Beispiel eine Essstörung oder eine … Vorliebe für kleine Mädchen gehabt hätte, wäre er trotzdem sehr tapfer und …«
»Er hatte keine Essstörung, und wenn du dich erinnerst, hat er Grace Kelly geliebt.«
»Ja.« Hannah gab auf. Es war viel besser, das psychologische Zeug ihrem Bruder zu überlassen. »Mum, ich werde Marma ganz lieb von dir grüßen und rufe dich morgen an. Versuch jetzt zu schlafen.«
»Das tue ich.«
Hannah steckte das Handy in die Tasche und schaute aus dem Fenster auf die grünen Felder, die Eichen und die Bilderbuchdörfer. Doch in Wirklichkeit waren es natürlich keine Bilderbuchdörfer. Die alten Kirchen wurden nicht mehr benutzt, in den alten Cottages gab es Elend und Unzufriedenheit. Nichts war, wie es schien.
Sie war gerade eben am Telefon keine Hilfe gewesen. Sie wünschte, sie könnte mit Harrison reden. Er war so gescheit und so freundlich und würde ihr das Richtige sagen. Und, noch wichtiger, er würde wissen, was sie ihrer Mutter sagen sollte. Aber sogar Harrison war offenbar nicht, was er schien. Gestern Abend hatte er sich jedenfalls überhaupt nicht wie der Harrison
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