Überraschung kommt selten allein
Sie wollte gerade den Pfarrer wegen der Beerdigung anrufen. Sie sagte, sie will keine Hilfe bei der Organisation. Und sie meinte, es sei so schade, dass er ausgerechnet jetzt gestorben ist, denn gerade fangen die Schwertlilien an zu blühen, und die mochte er immer besonders gern.«
Hannah lächelte. »Das klingt mehr nach Marma.«
»Ja.« Christopher klang ein wenig gefasster. »Tut es, nicht wahr? Rufst du mich an, wenn du wieder da bist?«
»Natürlich. An den Umständen um Großvaters Tod gibt es vermutlich keinen Zweifel?«
»Absolut keinen, fürchte ich. Es ist so eine geschmacklose Art zu gehen. Es fällt mir sehr schwer, ihm zu verzeihen. Ich mache jetzt lieber Schluss. Bis bald.«
Er legte abrupt auf, und Hannah blickte konsterniert auf das Telefon in ihrer Hand. Er hatte so wütend geklungen. Für sie war ihr Onkel immer die Quintessenz eines Akademikers gewesen: milde, gemessen, vorsichtig.
Sie sollte ihre Mutter anrufen. Doch erst mal brauchte sie einen starken Kaffee, dann eine heiße Dusche und dann noch einen starken Kaffee.
Als sie vierzig Minuten später zu Hause anrief, hob Tony ab, und sie berichtete ihm, dass sie nach Hampshire fahren würde.
»Christopher hat es mir schon erzählt. Du bist ein Engel. Bist du sicher, dass du so viel Zeit hast?«
»Ich werde meinen Laptop mitnehmen. Ich bin froh, dass ich mich nützlich machen kann. Wie geht es Mum? Kann ich mit ihr sprechen?«
»Na ja«, sagte Tony vorsichtig. »Es geht ihr ganz gut. Sie guckt High Noon .«
Hannah warf einen Blick auf die Küchenuhr. »Sie schaut Fernsehen?«
»Es ist eine DVD «, erklärte Tony. »Du weißt, wie sehr Bertie Western liebt. Kannst du in einer Stunde noch mal anrufen?«
»Ich versuche es vom Zug aus. Weiß sie, dass ich zu Marma fahre?«
»Ich werde es ihr sagen«, versicherte Tony. »Ich sage es ihr nach dem Film.«
Tony schien es ganz normal zu finden, dass eine Frau als Reaktion auf den plötzlichen und skandalösen Tod ihres geliebten Vaters einen Western schaute. Andererseits, dachte Hannah, wie soll man denn auf so einen Schock reagieren? High Noon war wenigstens besser als Beruhigungspillen.
Eigentlich wollte sie sofort anrufen, als sie im Zug saß, aber es war so voll, dass sie nur aus dem Fenster schaute und beobachtete, wie die Vororte in Landschaft übergingen. Sie versuchte gar nicht erst zu arbeiten. Sie holte ihr Handy heraus und schickte Alfie eine SMS . In Reading leerte sich der Zug, und sie rief zu Hause an. Diesmal ging Jacob dran.
»Hi, Jacob«, sagte sie. »Sag mal, kannst du das alles glauben?«
»Ja«, antwortete Jacob. Er war eigentlich immer für eine Überraschung gut. »Am Anfang nicht, aber dann habe ich nachgedacht. Großvater wirkte so makellos, und er war immer zu allen höflich. Hast du je gehört, dass er Marma nicht für ein wunderbares Essen gedankt hat? Er sah im Fernsehen gut aus: Er wirkte so weise und ruhig. Kein Mensch kann so perfekt sein, ohne irgendeinen Ort zu haben, wo er sich total gehen lassen kann.«
»Du hast wahrscheinlich recht«, räumte Hannah ein, »aber ich verstehe trotzdem nicht, warum er sich bei Prostituierten abreagieren musste. Warum hat er nicht getrunken oder ein Fußballteam zusammengebrüllt oder Golf gespielt oder sonst irgendwas? Marma tut mir so leid. Wie geht es Mum?«
»Sie hat High Noon geschaut. Nach dem Mittagessen gucken wir Mein großer Freund Shane oder Die glorreichen Sieben .«
Hannah senkte die Stimme. »Jacob, ich weiß, dass Mum Western liebt, aber ist das nicht ein merkwürdiges Benehmen?«
»Eigentlich«, sagte Jacob bescheiden, »war es meine Idee.«
»Das hätte ich mir denken können. Dann erklär mir mal, warum du unsre Mutter mit Western zwangsernährst.«
»Mum ist völlig durch den Wind«, sagte Jacob. »Ich meine, mega-mäßig. So habe ich sie noch nie erlebt. Als ich gestern Abend nach Hause kam, hat sie geweint. Sie konnte gar nicht mehr aufhören. Dad hat ihr Tee gebracht und eine heiße Schokolade nach der anderen, und sie hat immer weiter geheult. Es war schrecklich.«
»Oh, Jacob«, hauchte Hannah. »Das tut mir so leid. Arme Mum.«
»Ich bin ins Bett gegangen«, sagte Jacob, »und habe darüber nachgedacht, wie ich ihr helfen kann. Ich lese gerade dieses Buch über Wirtschaft. Es ist ziemlich gut. Man erkennt, dass man die Macht irrationalen Verhaltens niemals unterschätzen sollte. Im Grunde lautet die These: Man kann sich nicht darauf verlassen, dass die Menschen die richtigen Entscheidungen
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