Überraschung kommt selten allein
und schluckte schwer. »Arme Marma! Wie schrecklich für sie! Hat sie ihn beim Aufwachen tot neben sich gefunden?«
»Das ist das Problem«, sagte Tony. »Deswegen könnte es sein, dass es morgen in allen Zeitungen steht. Er war nicht zu Hause, als es passierte. Er war mit jemand anderem im Bett. Er war in einem einschlägigen Haus in Streatham. Anscheinend war er dort schon seit Langem ein regelmäßiger … Kunde.«
Hannah brauchte einige Momente, bis sie begriff, was das Wort »Kunde« implizierte. Sie sog scharf die Luft ein. » Großvater? Willst du sagen, dass Großvater zu Prostituierten gegangen ist? Das ergibt keinen Sinn! Er ist zweiundachtzig, Herrgott noch mal! Und außerdem ist er … also, er ist Großvater !«
»Da ist noch etwas … Alles in Ordnung, Weg da?«
Hannah schluckte und umklammerte das Handy. »Was?«
Am anderen Ende entstand eine Pause. »Das Bordell in Streatham ist auf Sadomaso-Praktiken spezialisiert. Ich vermute, unsere entzückende britische Presse wird einen Heidenspaß haben.«
»Ich kann es nicht glauben! Arme Marma! Ist sie okay? Und wie geht es Mum?«
»Nicht so gut. Es ist mir gelungen, sie zu überreden, ins Bett zu gehen. Sie ist davon überzeugt, dass alles ein schreckliches Missverständnis ist. Und was Marma angeht – Christopher sagt, sie sei sehr ruhig. Sie will die Beerdigung allein organisieren. Sie will im Augenblick niemanden bei sich haben. Schwer zu sagen, was man tun soll …«
»Besteht irgendeine Möglichkeit, dass Mum recht hat? Könnte das alles eine lächerliche Verwechslung sein?«
»Christopher scheint sich ziemlich sicher zu sein, dass die Fakten stimmen. Er hat mit der Polizei gesprochen. Und er hat mit der Frau gesprochen, die … die mit ihm zu der Zeit im Bett war. Die Sache ist …«, Tony räusperte sich, »ich kann nicht behaupten, dass ich Experte auf diesem Gebiet bin. Wir stehen im Augenblick alle unter Schock, und es wird eine Weile dauern, bis wir die Fakten kennen. Versuch, dich nicht über das aufzuregen, was die Zeitungen schreiben. Das meiste wird sowieso erfunden sein. Hör zu, ich schaue jetzt lieber nach deiner Mutter. Sie wird dich bestimmt morgen anrufen. Wenn nicht, kannst du dich vielleicht bei ihr melden. Für sie ist das alles sehr schwierig.«
»Natürlich mache ich das. Umarm sie für mich. Gute Nacht, Tony.«
»Gute Nacht, Weg da. Pass auf dich auf.«
Hannah legte das Handy beiseite und knipste das Licht aus. Sie versuchte, sich ihren Großvater unter irgendeiner die Peitsche schwingenden Frau vorzustellen. Hatten sie sich vorher unterhalten? Über das Wetter oder das Allerneueste aus dem Amtssitz des Premierministers? Nichts ergab einen Sinn. Hannah schloss die Augen und wartete ohne große Hoffnung, dass der Schlaf sie überwältigen würde.
Es schien, als wäre kaum Zeit vergangen, als das Telefon erneut läutete. Doch als sie einen Blick auf den Wecker auf ihrem Nachttisch warf, sah sie, dass es fast acht war. Sie stützte sich auf den Ellbogen und griff nach dem Handy.
»Hannah«, hörte sie ihren Onkel sagen. »Ich vermute, du weißt es schon?«
»Ja.« Hannah strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Onkel Christopher, es tut mir so leid. Ich …«
»Eine schreckliche Geschichte. Helen und ich haben fast die ganze Nacht darüber geredet.« Er klang wirklich erschöpft. »Wir haben gehofft, dass du uns einen Riesengefallen tun kannst. Ich weiß, wie beschäftigt du bist, aber könntest du dir vorstellen, heute Marma zu besuchen? Ich weiß, dass du in ein paar Wochen die Prüfung in Finanzwirtschaft hast.«
»Natürlich fahre ich hin. Schließlich ist heute Samstag. Ich rufe sie gleich an.«
»Nein«, sagte Christopher schnell. »Ruf sie nicht an. Tauch einfach auf. Ich hatte gestern Abend ein langes Gespräch mit ihr, und das Problem ist, ich musste ihr versprechen, dass Alberta und ich sie ein paar Tage in Ruhe lassen. Sie hat darauf bestanden, allein zu sein, aber Helen und ich haben das Gefühl, jemand sollte am Wochenende bei ihr sein. Das Dorf wird von Reportern überschwemmt sein. Marma meint, sie schafft das, aber …«
»Keine Sorge, ich fahre hin. Wie ging es ihr, als du mit ihr geredet hast?«
»Sie klang …« Christopher zögerte, als wüsste er nicht recht, wie er es beschreiben sollte. »Ich fand, sie klang geschäftsmäßig .«
»Das klingt nicht nach Marma.«
»Ich weiß. Ehrlich gesagt kam sie mir ein bisschen verunsichert vor. Sie hatte mit der Polizei und mit einem Arzt gesprochen.
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