Überraschung kommt selten allein
nicht mehr der Freigeist war, für den sie sich so gerne gehalten hatte. Ja, sie wohnte nicht gerne in Unordnung. Sie mochte den scharfen Geruch des Desinfektionsmittels auf dem Küchenfußboden und den der Möbelpolitur auf dem Esstisch.
Und was die Kinder anging, sie wusste, die Chance, dass sie einfach ins Auto sprang, um nach London oder Bath zu fahren, war gering. Christopher und Helen waren immer schwer beschäftigt und würden sich nicht um sie kümmern oder mit ihr ausgehen wollen, und sie hätte am Ende ein schrecklich schlechtes Gewissen, dass sie sich ihnen aufdrängte. Und Alberta, da war sich Philippa ziemlich sicher, würde gar nicht wissen, was sie mit ihr anfangen sollte.
Philippa streckte sich und stand auf. Der Gedanke an ihre Tochter schien neuerdings einen Pawlow’schen Reflex bei ihr auszulösen, der sofortige Befriedigung in Form von Sherry oder Kaffee erforderte. Bedauerlicherweise war es zu früh für Sherry. Alberta hatte am vergangenen Morgen angerufen, und ihre Stimme hatte entschlossen, fröhlich und optimistisch geklungen. Allen ging es gut. Jacob war sicher in Avignon angekommen und glücklich, auch wenn er niedere Putzarbeiten verrichten musste. Alberta meinte, er habe offensichtlich geglaubt, er würde gleich hinter der Bar arbeiten. Tony ließ grüßen und war im Garten, wo er versuchte, mit Lionel den Grill in Gang zu bringen. Dylan war übers Wochenende da, und sie amüsierten sich alle prächtig.
Hätte man Philippa ein Wahrheitsserum verabreicht, hätte sie geantwortet, sie sei vielleicht nicht die Klügste, aber sogar sie wisse, dass niemand sich prächtig amüsieren konnte, wenn Dylan in der Nähe war.
Sie hätte gesagt, sie wisse, dass Alberta unglücklich sei und ihren Vater vermisse. Wenn das Wahrheitsserum richtig stark wäre, hätte sie vielleicht auch hinzugefügt, dass sogar sie Michael vermisste, was ausgesprochen seltsam war, weil sie nie gedacht hätte, dass er ihr fehlen würde.
Philippa löffelte Kaffeepulver in einen Becher und lächelte. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, was Alberta darauf antworten würde. Wie gut, dass kein Wahrheitsserum im Spiel war. Als Alberta ihre Mutter fragte, wie es ihr gehe, sagte Philippa, es gehe ihr sehr gut, sie habe viel zu tun und freue sich sehr, weil Tante Hilda sie eingeladen habe, mit ihr nach Kreta zu fahren. Die letzte der drei Behauptungen war immerhin wahr.
Ein Wahrheitsserum war definitiv keine gute Idee. Würde sie ein Wahrheitsserum nehmen, wäre sie gezwungen, dem Pfarrer zu beichten, dass sie während seiner Predigt tatsächlich fasziniert das heftige Hüpfen seines Adamsapfels beobachtet hatte. Würde sie ein Wahrheitsserum nehmen, müsste sie zu Joan Cartwright laufen und ihr sagen, dass sie sehr wohl wisse, warum Joan nicht mit ihr redete; seit Jahren stand sie nämlich auf Michael und flirtete mit ihm, und jetzt fühlte sie sich persönlich von ihm betrogen. Würde sie ein Wahrheitsserum nehmen, wäre sie gezwungen, Maurice Cartwright zu sagen, dass er der einzige Mensch in ihrem Leben sei, der ihr das Gefühl gab, interessant und intelligent zu sein, doch sein grausamer Abgang aus ihrem Leben habe ihr klargemacht, dass sie nichts über die Menschen wusste. Würde sie ein Wahrheitsserum nehmen, müsste sie ins Auto springen und zu Alberta fahren, und das … das würde den letzten zwanzig Jahren den Sinn nehmen.
Philippa füllte den Becher mit kochendem Wasser auf und nahm ihn mit in den Garten. Die Rosen waren dieses Jahr eine Pracht. Am Samstag war sie zum Sommerfest der Chamberlains gegangen und hatte einen Strauß mitgebracht. Sie hatte sich erst im letzten Augenblick entschieden hinzugehen und war sich des kollektiven Einatmens bewusst, als sie durch die Tür trat. Sie ging gezielt auf jene Gäste zu, denen ihr Erscheinen am peinlichsten zu sein schien. Sie schwatzte intensiv mit Angela Mann über Blattläuse. Sie unterhielt sich mit Marion Farton über Wirtschaftspolitik, was sogar ganz lustig war, da weder sie noch Marion etwas von Wirtschaftspolitik verstanden. Sie hatte sogar Jessica Mayhew im Gewächshaus gestellt, und als Jessica ihre Überraschung darüber geäußert hatte, dass Philippa in so einer »schmerzlichen Zeit« auf eine Party ging, hatte Philippa laut und deutlich geantwortet, dass Michael die Sommerfeste der Chamberlains immer sehr genossen hatte und gewollt hätte, dass sie hinging. Als Philippa Michael erwähnte, nahm Jessicas Gesicht eine ausgesprochen unschöne dunkelrote
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