Überwachtes Netz
Snowden stellt sich mit seinen Enthüllungen in mehrfacher Weise gegen diese Entwicklung. Auf diese Weise belebt er die Figur des Bürgers und zieht den Staat zur Verantwortung. Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki kommentiert.
Total-Überwachung gehört in westlichen Demokratien zu den angenommenen und zu den geduldeten Szenarien. Die weit verbreitete Akzeptanz geht auf die Neuzeit zurück. Die staatlichen Überwacher galten als Beschützer – sowohl in der Gestalt von distanzierten Autoritäten als auch von konkreten Vertrauenspersonen im Alltag der Bürger. Sie profilierten sich durch Fürsorge, Verantwortung, Wachsamkeit und boten größtmöglichen Schutz – sowohl für den Einzelnen als auch für dessen Eigentum. Insbesondere nachts, wenn die meisten schlafen. Für dieses Rundumversorgungspaket erwarteten die Überwacher Disziplin und Gehorsam. Man musste sich an deren Normen und Gesetze halten.
Das waren in der Neuzeit »Stoff, Form und Gewalt eines staatlichen Gemeinwesens« (Thomas Hobbes). Und heute? Der Staat bietet nicht mehr Schutz, sondern Sicherheit. Das ist ein entscheidender Unterschied. Neuerdings zum »Super-Grundrecht« (Hans-Peter Friedrich) avanciert, dient Sicherheit als Legitimation für verfassungswidrige Operationen. Für den Staat ist in Friedenszeiten jeder Exzess denkbar: Ob nun für die paranoide Übererfüllung seiner Beschützerfunktion oder für die Vernachlässigung eben dieser Pflicht.
Die seit dem 11.09.2001 unablässig »boomende Sicherheitsindustrie« (Naomi Klein) katalysiert beide Extreme: Der mit der privaten Wirtschaft verwachsene Überwachungsstaat ist den Produktversprechen der Sicherheitsfirmen erlegen und wird im Zuge dessen zu neuartigem Größenwahn beflügelt. Andererseits entzieht er sich seiner Verantwortung, wenn er Überwachung an private Dienstleister auslagert.
Duldung und Division
Der Fall Snowden zeigt: Die Zumutungen haben einen Punkt erreicht, an dem die Duldung einem Aufbegehren weicht. Aus »ich weiß, dass ich Zugang zu ungeheurem Wissen habe« wird »ich kann nicht länger mit dem Wissen um dieses Wissen leben«. Snowdens innere Kehrtwende wäre ein Identifikationsangebot unter vielen, wenn das Problem nicht uns alle beträfe. Und so drängt es sich geradezu auf, dass zudem aus »wir wissen, dass wir nicht wirklich wissen wollen, wie es nun genau ist« so etwas wird wie »wir können nicht länger mit dem Wissen um unser Nicht-Wissen-Wollen leben«.
Darüber hinaus zeigen Snowdens Enthüllungen über die Zusammenarbeit zwischen Staaten und transnationalen IT-Konzernen: Die Überwacher sind auf maximale Distanz zu ihren Subjekten gegangen, die sie nur noch datentechnisch erfassen, einsortieren und analysieren wollen, aber für die sie nicht mehr sorgen wollen, geschweige denn Verantwortung übernehmen wollen.
Eine tiefe Kluft tritt deutlicher denn je zu Tage: Die Division zwischen Staat und Bürger. Das zeigt sich in den Enthüllungen selbst – sowohl in der großen Erzählung als auch in jedem einzelnen Detail. Und die Berichterstattung über die Enthüllungen zementiert diese Spaltung. Man setzt entweder auf Personengeschichten oder auf die Skandalisierung von Machtmißbrauch. So werden Snowdens Situation und die Inhalte seiner Enthüllungen voneinander getrennt. Kein Bericht strebt eine Synthese an.
Bürger und Staat zusammendenken
Bürger- und Staatsfragen zusammenzudenken, liegt offenbar nicht im Interesse von Journalisten. Selbst jene, die politisch engagiert das Wort ergreifen, verweigern sich in dieser Sache. John Naughton etwa betont, nicht Snowden sei die Geschichte, sondern das, was seine Enthüllungen über die Zukunft des Internet aufzeigen. Lorenz Matzat gibt wiederum zu verstehen, er habe den Staat in dieser Sache abgeschrieben, der Bürger hingegen müsse sich neu sammeln. Jedoch erinnert uns der zwischenzeitig an einem Flughafen gestrandete und dann in Russland Asyl suchende Edward Snowden daran: Ein Staat ohne Bürger und umgekehrt ein Bürger ohne Staat sind nicht denkbar.
Snowden macht deutlich: Wer einen Bürger, der wie Edward Snowden außerordentliche Zivilcourage beweist, zum Staatsfeind erklärt, schwächt nicht nur die Identität des Bürgers. Sondern auch des Staats. Welche Legitimation hat die USA noch als Rechtsstaat, wenn sie berechtigte Kritik aus den Reihen ihrer Bürger unterdrückt? Diese Frage stellt sich insbesondere dann, wenn der Gegenstand der Kritik staatliche Programme sind, die nicht nur auf
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