Ufer des Verlangens (German Edition)
gegenüber von einer Liebe zu sprechen, die sich nur in Frankreich leben ließ?
Zelda zweifelte daran. Ihre Schwester ließ sich zu nichts zwingen. Es sei denn, sie schützte damit jemand anderen. Aber genauso sehr zweifelte Zelda noch immer daran, dass Joan tatsächlich einen heimlichen Liebsten haben sollte.
Sie sah hoch und begegnete den neugierigen Blicken des Scherenschleifers.
»Ist Euch noch etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«, fragte sie eindringlich.
Der Mann hob die Arme zum Himmel. »Ich würde Euch ja gern dienen, Mylady, aber ich weiß beim besten Willen nicht, worauf Ihr hinauswollt!«
Das wusste Zelda eigentlich auch nicht, doch plötzlich durchfuhr sie ein Geistesblitz.
Ian Laverty hatte Esmeralda und sie möglicherweise gestern Abend zusammen im Hafen gesehen. Vielleicht hatte er sie später noch einmal getroffen und ihr Geld gegeben, damit sie schwieg und das Geheimnis der fremden, blassen Frau aus der Roten Laterne ungelüftet blieb?
»Sagt, guter Mann«, wandte sie sich wiederum an den Scherenschleifer. »Hat Esmeralda vielleicht plötzlich Geld gehabt? Trug sie einen Lederbeutel am Gürtel, den Ihr noch nie zuvor bei Ihr gesehen habt?«
Der Scherenschleifer schüttelte den Kopf. »Hört, Mylady, ich bin ein schwer arbeitender Mann. Keine Magd, die den halben Tag und die ganze Nacht mit Geschwätz zubringt. Ein Mann hat sie begleitet, das habe ich gesehen, sonst weiß ich nichts.«
»Ein Mann? Einer, den Ihr kennt?«
Der Scherenschleifer schüttelte den Kopf. »Ich kenne niemanden in Edinburgh. Meine Frau und die Kinder wohnen in einem kleinen Weiler, etwa zehn Meilen von hier. Zu dieser Jahreszeit ziehe ich von Ort zu Ort, sehe jeden Tag neue Gesichter.«
»Wie war der Mann gekleidet? Wie sah er aus? «, wollte Zelda wissen. Sie trat näher, beugte den Oberkörper weit vor, und der Scherenschleifer sah, dass sie aufgewühlt war. Er runzelte nachdenklich die Stirn, denn erwürde der jungen Lady gern helfen, aber, in Gottes Namen, sie verlangte einfach zu viel. Er war schließlich keiner der Stadtschergen, die jeden Halunken auf eine Meile gegen den Wind erkannten.
Zögernd sagte er schließlich: »Groß war er. Sein Haar hatte einen dunkelroten Schimmer, soweit ich das in dieser Dunkelheit sehen konnte. Er trug feine Kleider, war bestimmt kein Zigeuner. Wie ein Edelmann sah er aus.«
Er machte eine Pause und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen das Kinn. »Ja, wie ein Edelmann oder ein reicher Kaufherr.«
Zelda nickte. Ihre schlimmsten Befürchtungen hatten sich soeben bestätigt.
»Kennt Ihr einen Mann mit Namen Ian Laverty?«, fragte sie zum Schluss und sah dem Scherenschleifer fest in die Augen.
Dessen Blick flackerte ein wenig, und seine Antwort kam eine Spur zu langsam. »Nein«, sagte er und senkte den Blick. »Warum fragt Ihr?«
Zelda war sich sicher, dass aus dem Mann nichts mehr herauszuholen war. Ganz deutlich hatte sie die Angst in seinem Blick gesehen. Und sie wusste, dass Angst noch mehr Macht über einen Menschen hatte als Geld.
»Ich danke Euch schön«, sagte sie, wandte sich um und ging davon.
Sie wusste, dass der Scherenschleifer nun aufatmete. Und mit derselben Sicherheit wusste sie auch, dass er noch heute sein Habe zusammenpacken und in die nächste bewohnte Gegend weiterziehen würde.
Doch auch sie wusste, was zu tun war.
Sie würde zum Hafen gehen und sich vom Hafenmeister in die Passagierliste des Schiffes eintragen lassen,das morgen in aller Früh von Edinburgh aus in See stechen wollte.
Zielstrebig hastete Zelda durch die engen Gassen, die jetzt, zur vollen Mittagsstunde, voller Menschen waren. Einen Augenblick dachte sie daran, zuerst in das Haus der Dalrumples zu gehen und Laetitia zu bitten, ihr jemanden zu nennen, der sie begleiten und die Passage beim Hafenmeister kaufen konnte, doch dann besann sie sich anders. Sie war stark und mutig. Sie brauchte keinen Schutz. Sie hatte geschworen, Joan zurück nach Hause zu bringen, und sie würde nicht eher ruhen, bis sie das geschafft hatte. Sollten Laetitia oder William Einwände haben – und Zelda war sich ganz sicher, dass sie welche hatten —, nun, dann musste man sehen, was sich noch tun ließ. Vielleicht hatte William Dalrumple mit seinen weit reichenden Beziehungen auch Bekanntschaften unter den übrigen Passagieren.
Jetzt wollte Zelda nur eines, und zwar zum Hafen.
Zielstrebig schritt sie, ohne sich um die Geschehnisse im Hafen zu bekümmern, zum Kontor des Hafenmeisters.
Hoch aufgerichtet
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