Ufer des Verlangens (German Edition)
sie es, das steht fest. Aber von Angst habe ich nichts bemerkt.«
»Hat sie vielleicht eine Nachricht hinterlassen?«
Der Scherenschleifer schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Natürlich hat sie das! Beinahe hätte ich es vergessen. Aber sagt mir, wer Ihr seid, damit ich sicher sein kann, die Nachricht an die richtige Adresse zu übergeben.«
»Lady Zelda McLain von den McLain-Manors in den Highlands«, erwiderte Zelda.
Der Scherenschleifer kramte in seiner Tasche und besah einen Umschlag aus einfachstem Pergament ohne Siegel und ohne Wappen.
»Sagt noch einmal Euren Namen. Und sprecht dabei bitte ganz langsam«, bat er.
Zelda runzelte ein wenig ärgerlich die Stirn. Dann wiederholte sie Wort für Wort ihren Namen. Der Mann schaute auf den Umschlag, dann zuckte er ratlos mit den Achseln.
»Ich kann nicht lesen, nur ein paar Buchstaben kenne ich. Aber ob der Name auf dem Umschlag der Eure ist, kann ich nicht sagen.«
»Dann zeigt her!«, forderte Zelda und streckte auffordernd eine Hand aus.
Der Mann versteckte den Umschlag geschwind hinter seinem Rücken. »Nicht so eilig. Esmeralda hat mir aufgetragen, den Umschlag nur an diejenige auszuhändigen, die vorn benannt ist. Zeige ich Euch das Papier, so könnt Ihr leicht den Namen lesen und Euch als eben-diese Person ausgeben.«
Zelda seufzte und verdrehte ein wenig die Augen. Schließlich ging sie von dannen und eilte zu einem der Schreiber, die vor dem Rathaustor auf Kundschaft warteten.
Sie ging zu einem, der ein wenig abseits stand und noch sehr jung war. Sein Gesicht hatte die Züge eines Knaben. Keine einzige Bartstoppel verunzierte das schön geformte Gesicht.
»Seid Ihr ein Schreiber?«, fragte Zelda.
»Gewiss, Mylady. In der Klosterschule von Canterbury habe ich das Lesen und Schreiben erlernt. Ganzgleich, ob Ihr etwas auf Lateinisch oder Englisch, Französisch oder in einem der schottischen Dialekte benötigt, ich stehe Euch zu Euren Diensten.«
Zelda erklärte mit wenigen Worten, was sie von dem jungen Schreiber wünschte. Gleich darauf gingen sie nebeneinander her zum Stand des Scherenschleifers.
»Nun, ich habe hier einen Jungen mitgebracht, der des Lesens und Schreibens mächtig ist. Zeigt ihm den Brief, und lasst ihn vortragen, was auf dem Umschlag steht. Oder soll ich zuerst meinen Namen nennen, damit der Schreiber überprüfen kann, ob eben dieser Name geschrieben ist?«
Der Scherenschleifer nickte. »Ja, so machen wir es. Nennt noch einmal Euren Namen, und lasst den Schreiber prüfen, ob er mit dem Namen auf dem Umschlag übereinstimmt.
Zelda seufzte ein wenig, dann wiederholte sie zum dritten Mal an diesem Morgen ihren Namen. Die Blicke des bartlosen Jünglings aus dem Kloster in Canterbury flogen über das Pergament, welches der Scherenschleifer ihm unter die Nase hielt, dann nickte er und sagte bemüht ernsthaft: »Ja, der Name der Lady stimmt mit dem Namen auf dem Umschlag überein.«
Zelda atmete auf. Sie hatte gewusst, dass Esmeralda sie nicht im Stich lassen und sang- und klanglos verschwinden würde, hatte gewusst, dass die Nachricht für sie bestimmt war.
Ungeduldig griff sie nach dem Umschlag, gab dem Schreiber ein Geldstück für seine Arbeit und dem Scherenschleifer ein weiteres für seine Bemühungen. Dann faltete sie den Pergamentbogen auseinander und las:
»Liebe Zelda ,
verzeiht, dass ich mich nicht von Euch verabschiedet habe. Manchmal kommt alles andere, ab man denkt. Ich habe mit der jungen Frau in der Roten Laterne gesprochen .
Sie weiß, was sie tut. Sie ist nicht gegen ihren Willen dort und wird auch nicht gegen ihren Willen nach Frankreich verbracht. Sie liebt den Mann, mit dem sie zusammen ist. Haben wir Menschen das Recht, auseinander zu bringen, was vielleicht der Herr, unser Gott, zusammengebracht hat?
Dürfen wir die Pläne, die der Mensch um des eigenen Vorteils willen gemacht hat, höher halten als den Plan des Schicksals?
Ich weiß es nicht, Lady Zelda .
Aber ich kann mit Sicherheit behaupten, dass ich Euch niemals schaden wollte. Deshalb bin ich gegangen. Lasst dem Schicksal seinen Lauf, Zelda. Ihr werdet sehen, es geschieht, was geschehen muss .
Gott schütze und segne Euch. «
Zelda ließ den Bogen sinken. Esmeralda hatte mit keinem Wort geschrieben, dass die Frau in der Roten Laterne Joan war, aber Zelda wusste plötzlich mit einer Gewissheit, die aus ihrem Inneren kam, dass die Frau niemand anderes als ihre Schwester sein konnte.
Hatte jemand Joan gezwungen, Esmeralda
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