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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel
Autoren: S Mann
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helfen. Zudem interessierte mich, was hinter seiner Not stecken mochte.
    »Worum geht es?«, fragte ich und bemühte mich um einen bestimmenden Ton.
    »Um den Toten, der in Zumikon gefunden wurde.«
    »Ja?« Aufmerksam geworden, richtete ich mich auf.
    »Er ist kein Flüchtling und er fiel auch nicht aus einem Flugzeug.«
    »Wie kommen Sie zu dieser Annahme?«, erkundigte ich mich vorsichtig. Bei manchen Leuten konnte man nie wissen, vielleicht war er nur ein Wichtigtuer, der mein Bild in der Zeitung gesehen hatte.
    Als hätte er meine Gedanken erraten, erwiderte der Mann: »Ich kann Sie beruhigen: Ich bin nicht einer dieser Anrufer, die sich nach spektakulären Presseartikeln aufspielen wollen. Wäre dem so, hätte ich die Polizei angerufen oder die Boulevardpresse, aber sicher nicht einen Privatdetektiv. Diesen Menschen geht es um größtmögliche Aufmerksamkeit. Ich hingegen bin auf absolute Diskretion angewiesen.«
    Das hatte was. Trotzdem beseitigte dies meine Zweifel nicht gänzlich. »Was wissen Sie über den Toten?«
    »Dass er eben keineswegs aus dem Flugzeug gefallen ist«, wiederholte der anonyme Anrufer geduldig.
    »Weshalb sind Sie sich da so sicher?«
    »Weil er sich schon zuvor in der Schweiz aufgehalten hat.«
    »Woher wissen Sie das?«
    »Leider ist es mir nicht möglich, darüber Auskunft zu geben.«
    »Was wollen Sie von mir?«
    »Finden Sie heraus, was ihm widerfahren ist.«
    »Kennen Sie ihn?«
    Der Mann zögerte leicht mit der Antwort, dann sagte er: »Das tut nichts zur Sache.«
    Also ja.
    »Geben Sie mir ein paar Anhaltspunkte.«
    Jetzt galt es, am Ball zu bleiben. »Was vermuten Sie, was geschehen ist? Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen? Woher kommt er?«
    »Ich muss Schluss machen.« Der Mann flüsterte plötzlich.
    »Wie kann ich Sie erreichen?«, fragte ich eilig.
    »Gar nicht. Ich rufe Sie an.« Ohne ein Wort des Abschieds beendete er den Anruf.
    Verwirrt starrte ich auf mein Mobiltelefon. Der Mann hatte eindeutig eine merkwürdige Beziehung zu dem Opfer unterhalten. Einerseits wollte er dessen Tod aufgeklärt wissen, andererseits gab er weder seine Identität preis noch auf welche Art er den jungen Mann gekannt hatte. Falls es stimmte, was er sagte, konnte ich meine Theorie vom Sturz aus dem Flugzeug auf der Stelle begraben.
    Für den Bruchteil einer Sekunde war ich versucht, den Staatsanwalt anzurufen und auf den möglichen Irrtum hinzuweisen, doch ich verwarf die Idee sogleich wieder. Tobler würde ohnehin glauben, es handle sich um einen Racheakt meinerseits, weil er mich derart mies ausgebootet hatte.
    Nachdenklich trank ich einen Schluck des mittlerweile lauwarmen Kaffees. Ich war mir sicher, dass es sich hier um eine ernst gemeinte Anfrage handelte und der Mann wieder anrufen würde. Und meine Auftragslage ließ mir zurzeit derart viel Freiraum, dass andere Leute von Urlaub gesprochen hätten. Es sprach also nichts dagegen, die vage Spur aufzunehmen und ein paar alte Bekannte im Quartier aufzusuchen.
    In den vergangenen Jahren hatte die Stadt den ehemals verruchten Kreis 4 schrittweise aufgewertet, was bedeutete, dass die offene Drogenszene erfolgreich verdrängt wurde, die Prostitution eingedämmt und etliche zwielichtige Spelunken trendiger Gastrokultur gewichen waren. Die Kehrseite der Medaille war jedoch, dass die Dealer nun in den Nebenstraßen, in Hinterhöfen und im Bus der Linie 32, die quer durch den Kreis führte, ihren Geschäften nachgingen. Die Schickimicki-Partyszene hielt rauschend Einzug, etliche Gebäude wurden renoviert und die neu entstandenen Wohnungen zu horrenden Preisen weitervermietet, derweil sich alteingesessene Bewohner und einkommensschwache Familien gezwungen sahen, wegzuziehen. Die Aufwertung, so gut gemeint sie auch war, verkam zu einer sozialen Säuberung. Doch während sich die Verantwortlichen gegenseitig auf die Schultern klopften, torkelten an der Kreuzung Militär- und Langstrasse, wo sich die übelste Bushaltestelle der Stadt befand, nach wie vor Junkies und Alkoholiker herum und laberten jeden Passanten um etwas Münz an.
    Es machte wenig Sinn, diese verkommenen Gestalten nach dem Toten zu fragen, die meisten hätten selbst ihr eigenes Konterfei nur mit Mühe wiedererkannt, hätte man es ihnen unter die Nase gehalten. Nein, wenn ich wirklich etwas über den Jungen herausfinden wollte, musste ich mich an eine Insiderin wenden, eine Eingeweihte, die sich auskannte im Quartier. An eine scharfe Beobachterin, der nichts entging, was sich an der
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