Uferwechsel
Langstrasse abspielte. An eine Kapazität.
Miranda öffnete die Tür nur spaltbreit, und als ich meine mit Schneematsch verschmierten Schuhe ausgezogen und die kleine, verdunkelte Einzimmerwohnung betreten hatte, lag sie bereits wieder im Bett.
»Weißt du, wie spät es ist?«, krächzte sie.
»Bald Mittag!«
»Eben! Was hast du dir bloß dabei gedacht?«
Ich sah ihr amüsiert zu, wie sie ihr Gesicht im Kissen vergrub.
»Ist wohl spät geworden gestern Nacht?«
»Eher früh heute Morgen.«
»Hat’s wenigstens Spaß gemacht?«
»Für dreihundert Franken lasse ich das jeden glauben.« Meine beste Freundin richtete sich halb auf und blickte mich Mitleid heischend an. Seit Monaten versuchte sie, ein erschwingliches Lokal zu pachten, um es zu einer japanischen Suppenbar umzufunktionieren, doch die Preise im Quartier waren auch in dem Bereich explodiert. Was Miranda zwang, weiterhin ihrem ungeliebten Job als Prostituierte nachzugehen. Man sah ihr an, dass sie diese Situation zunehmend belastete. Wenigstens hatte sie dabei weder ihren bissigen Humor noch ihre ungezügelte Lust auf alkoholische Getränke verloren, doch manchmal machte ich mir trotzdem Sorgen um sie.
Miranda fuhr sich gereizt durchs Haar, um die wild abstehenden Locken zu bändigen, was ihr nicht einmal ansatzweise gelang. So ungeschminkt und übernächtigt wie sie war, ähnelte sie wieder stark Gustavo, dem hübschen, wenn auch etwas femininen Brasilianer, den ich vor Jahren im Labyrinth kennengelernt hatte. Die dunklen Bartstoppeln auf ihren Wangen und die im Kontrast dazu stehenden langen rosa lackierten Fingernägel unterstrichen ihre Verwandlung zusätzlich.
»Ich sehe fürchterlich aus«, klagte Miranda, und ich hielt – aus Erfahrung weise geworden – den Mund. »Was willst du überhaupt?« Sie zog die Decke bis zum Kinn, während sie eines ihrer endlos langen Beine darunter hervorstreckte und anwinkelte.
Ich trat ans Fenster, öffnete es und schob die altersschwache Blechjalousie von Hand hoch, da sie sich anders nicht mehr bewegen ließ. Ein schrilles Quietschen erklang und Miranda hielt sich demonstrativ die Ohren zu. Dann setzte ich mich auf den Bettrand und hielt ihr einen Ausdruck des Fotos hin, das mir José zuvor gemailt hatte. »Hast du den schon mal in der Gegend gesehen?«
»Ein neuer Fall?«, erkundigte sie sich und linste blinzelnd auf die Aufnahme des Toten.
»Sieht ganz danach aus.«
Jetzt nahm mir Miranda das Bild aus der Hand und betrachtete es eingehend. »Tut mir leid. Der wäre mir sicher aufgefallen. Muss ein ganz Süßer gewesen sein, bevor ihm der Lastwagen über den Kopf gefahren ist.«
Enttäuscht nahm ich die Fotografie wieder an mich. »War nur so ’ne Idee.«
»Nicht jeder dunkelhäutige junge Mann muss zwangsläufig auf der Straße landen«, argumentierte Miranda. »Was weißt du über ihn?«
»Eben nichts«, erwiderte ich zerknirscht.
»Und jetzt bist du auf der Suche nach ihm? Wer hat dir den Auftrag dazu erteilt?«
»Keine Ahnung. Der Alte wollte sich am Telefon nicht zu erkennen geben.«
»Na also!«
Miranda grinste, während sie eine Haarsträhne um den Zeigefinger wickelte.
»Was?«
»Dann ist der Fall ja klar.«
»Ach?«
»Aber so was von sicher! Vielleicht sollten wir mal tauschen. Ich such deine Perserkatzen, Putzfrauen und die ganzen verwahrlosten Jungs, während du meinen Freiern ein wenig Ekstase vorspielst. Im Schrank finde ich sicher noch eine alte Perücke.«
»Mein Schauspieltalent ist beschränkt«, brummte ich unwirsch.
»Für drei Lappen wirst du ja wohl ein paar lustvoll gestöhnte ›Ohs‹ und ›Ahs‹ zustande bringen. Vielleicht sogar ein euphorisch gekreischtes ›Ja! Ja! Fantastisch!‹? Wollen wir kurz mal üben? Die Nachbarn sind das gewohnt.«
»Komm zur Sache!«
»Hör ich die ganze Zeit.« Miranda kicherte und lehnte sich an den Kopfteil des Bettes, während sie ihren Finger wieder aus der Locke befreite. »Eigentlich ist es ganz einfach: ein junger Mann, offensichtlich aus einem anderen Kulturkreis, und ein älterer Mann, der sich nicht zu erkennen geben will, sich aber trotzdem Sorgen um den Jüngeren macht. Was kommt dir bei dieser Konstellation spontan in den Sinn?«
Ratlos hob ich die Schultern.
Miranda seufzte. »Mann, sonst ist doch dein Horizont auch nicht so eng! Was ist, wenn der Mann den Jungen besser gekannt hat?«
»Muss er wohl, sonst würde er mich kaum dafür bezahlen, dass ich seinen Tod aufkläre«, schnappte ich säuerlich
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