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Uferwechsel

Uferwechsel

Titel: Uferwechsel
Autoren: S Mann
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noch nie gesehen.« Ängstlich blickte er mich an und ich trat einen Schritt zurück. Das Bedürfnis nach einer Zigarette überfiel mich jäh.
    »Aber ich habe anderes gesehen, anderes, gell, davon könnte ich dir erzählen!« Er richtete sich auf, plötzlich eifrig. Wahrscheinlich hoffte er, ich würde ihn für irgendwelche sinnlosen Informationen bezahlen.
    »Du, die haben jetzt die Pingpongtische abgeschraubt in der Bäckeranlage, gell«, wechselte er das Thema. »Damit wir unser Bier nicht mehr hinstellen können. Dabei können wir es auch gut in der Hand halten, he he. Oder?« Er grinste und entblößte dabei seine nikotinbraunen Zähne. Zumindest diejenigen, die noch vorhanden waren.
    Ich wusste, wovon er sprach, das Thema hatte im Quartier für einiges Kopfschütteln gesorgt: Aufgebrachte Eltern hatten verlangt, dass die Tischtennistische aus der hintersten Ecke der öffentlichen Parkanlage entfernt wurden, weil sich dort Randständige aufhielten, von denen sie ihren Nachwuchs bedroht sahen. In welcher Hinsicht auch immer. Dem empörten Aufruf war natürlich umgehend Folge geleistet worden, die Tische wurden abmontiert und der lokale Tischtennisklub musste sich zwangsläufig einen anderen Trainingsplatz suchen. Die Alkis allerdings ließen sich von der fehlenden Theke, auf der sie ihre Bierdosen abgestellt hatten, nicht vertreiben. So viel zu Toleranz und Urbanität im ehemals verruchten Trendquartier. Aber wohnen wollten sie alle hier. Ums Verrecken.
    »Bäckeranlage eben, hm, nachts ist da manchmal ziemlich was los.« Richie beugte sich vor, sodass ich seinen fauligen Atem riechen konnte. Unauffällig wich ich zurück.
    »Ist schon okay, Richie, du hast mir sehr geholfen. Ich muss jetzt weiter …«
    »Da war eine Schlägerei, ist schon ’ne Weile her, gell. Im Park, mhm, war im Sommer. Aber jetzt übernachte ich eh in der Notschlafstelle, ist ja viel zu kalt, verdammter Winter, verdammt.«
    Sein Blick verlor sich, bis Richie wieder einfiel, wovon er zuvor gesprochen hatte. »Zwei sind im Spital gelandet und einer war dabei, den kennt man. Du, ich lese ja immer den Sportteil, gell, nur den Sportteil, der Rest interessiert mich einen Scheiß, der Rest ist ein Scheiß …«
    »Danke, Richie, lass gut sein.« Ich versuchte, mich von ihm zu entfernen, doch er hielt mich am Jackenärmel fest.
    »He du, meinst du, das würde was einbringen, ein wenig Zaster, he he, wenn ich jemandem davon erzählen würde? Den Zeitungsfritzen oder so? Hm?«
    »Ich habe keine Ahnung, Richie. Echt. Ich muss jetzt wirklich los.«
    »Ist ja auch schon lange her, gell, im Sommer war das, im letzten Sommer …«
    Ich ließ ihn stehen, er hob enttäuscht die Hand zum Gruß und lächelte schief. Als ich zurückblickte, stand Richie immer noch dort und winkte. Mein Herz zog sich zusammen. Ein einziger Schritt in die falsche Richtung, dachte ich, und man ist neben der Spur.
    Schneeglöckchen und Krokusse wuchsen auf einem grellgrünen Rasen, Narzissen und Tulpen in Vasen, ein halbes Dutzend Küken tummelte sich im Vordergrund und ein flauschiger Osterhase hatte es sich in einer Ecke bequem gemacht. Doch ich stand keineswegs vor der Confiserie Sprüngli am Paradeplatz, sondern vor Balthasars Laden an der Kernstrasse. Entsprechend fanden sich nebst den bunten Blümchen und schnuckeligen Tierchen einige Schmuckstücke aus Balthasars umfangreichem Angebot. Darunter Latexmanschetten, die sich wie Fesseln um die Küken spannten, die Narzissen steckten in Kanülen aus Chromstahl, massive Eisenringe und eine vielsträngige Lederpeitsche lagen zwischen den Krokussen, und der Hase trug, obwohl zu groß für sein Hasengesicht, eine Maske mit zugenähtem Mundbereich, derweil zwischen seinen Beinen etwas hervorragte, das auch bei wohlwollender Betrachtung niemals als Osterei durchgegangen wäre.
    Sie waren stadtbekannt, die gleichsam anrüchigen wie originellen Schaufenster des Fetischladens – genauso wie ihr Gestalter. Ich kannte Balthasar schon seit Jahren. Wenn man im selben Quartier in Zürich wohnte und arbeitete, lief man sich zwangsläufig immer wieder über den Weg. Wir verstanden uns bestens, obwohl ich seine Vorliebe für stark behaarte Männer in Lederuniformen nicht zu teilen vermochte.
    Balthasar war eine eindrückliche Erscheinung, altersmäßig jedoch schwer einzuschätzen. Unverkennbar war er Inhaber eines Fitnessabonnements, der Schädel war kahl rasiert, dafür zierte ein schmales Bärtchen sein Kinn. Durch sein T-Shirt zeichneten
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