Uferwechsel
unsere Macken waren uns vertraut, und es kam nicht selten vor, dass wir in einem Moment den gleichen Gedanken aussprachen. Wie ein seit Urzeiten verheiratetes Ehepaar. Schrecklich eigentlich, wenn man so darüber nachdachte. Ich leerte meinen Becher und zerknüllte ihn in der Hand.
»Der Junge war tiefgefroren und trug weder Ausweise noch Geld bei sich. Nicht einmal ein Mobiltelefon. Der Spaziergänger hat angegeben, dass er mit seinem Hund jeden Tag dieselbe Route läuft, aber am Vortag sei ihm nichts aufgefallen. Und Spuren wird man keine gefunden haben bei dem Schneesturm!«
José stöhnte. »Das sind wirklich erbärmlich wenig Informationen.«
Er holte die Kamera hervor und betrachtete erneut das verwackelte Bild der Leiche auf dem Display.
»Ich frage mich schon die ganze Zeit, wer zu so was fähig ist. Der Ärmste wurde wirklich übel zugerichtet. Da ist jemand mit äußerster Brutalität vorgegangen, die Knochenbrüche sind sogar mit bloßem Auge zu erkennen. Und sein Gesicht scheint unter einen Lastwagen geraten zu sein.«
»Das ist mir vorhin auch aufgefallen. Als hätte der Täter vor Wut die Kontrolle verloren und blindlings zugeschlagen. Allerdings …« Ich brach ab.
»Was?«
»Nichts.«
Wir hatten Witikon erreicht, ein abgeschiedenes Quartier am Stadtrand. Unter uns, am Fuße des Abhangs, lag das Zürichhorn, daneben das verwaiste Strandbad Tiefenbrunnen. Nachdenklich blickte ich auf den schiefergrauen See. Möwen kreisten über einer kleinen Gestalt am Uferweg, ein paar Schwäne näherten sich in gesetztem Tempo. Über dem Hirzel, dem Hügelzug auf der anderen Seeseite, hing eine fahle Wintersonne. Endlich war mir wieder wärmer. Ich entledigte mich der Fellmütze und öffnete den Reißverschluss meiner Jacke. Dabei dachte ich über den Fundort der Leiche nach. Der abgebrochene Ast direkt darüber ging mir einfach nicht aus dem Sinn.
Während sich auf dem Weg zur Arbeit und zurück täglich Tausende von Agglomerationsbewohnern in den S-Bahnen so eng zusammendrängten, dass sie bei jeder Bremsung unabsichtlich den Ohrenschmalz des Nebenmannes mit der Nasenspitze rauspulten, genoss ich das Privileg, in einer multifunktionalen Wohnung zu leben, die je nach Auftragslage als Büro oder Heim fungierte. Wenn ich pendelte, war es einzig vom Bett zum Schreibtisch oder vice versa. Ich brauchte dazu auch keinen Limousinenservice, denn – anders als bei vielen Neubauten im Quartier – in meiner heruntergekommenen Zweizimmerunterkunft an der Dienerstrasse waren Bett und Tisch in Sichtweite voneinander entfernt. Natürlich hätte ich nichts gegen eines dieser hangargroßen Lofts oder eine pompös umgebaute Altbauwohnung einzuwenden gehabt, wie sie seit geraumer Zeit überall in der Stadt zu horrenden Preisen angeboten und erstaunlicherweise auch vermietet wurden. Ein Umzug hätte jedoch eine wesentlich umfassendere Kundenkartei erfordert. Wahrscheinlich wäre mir selbst dann das Geld schon nach der Überweisung der Kaution ausgegangen, obwohl ich mittlerweile wirtschaftlich etwas besser dastand als zu Beginn meiner Karriere. Was mich glücklicherweise davor bewahrte, im indischen Lebensmittelgeschäft meiner Mutter Regale aufzufüllen oder mit einem gefühligen RAV-Berater meine beruflichen Perspektiven abzutasten.
Ein Wohnungswechsel kam aber keinesfalls infrage, nicht einmal in erster Linie wegen meiner finanziellen Unzulänglichkeit. Vielmehr fühlte ich mich im Kreis 4 zu Hause, der einst verruchtesten Gegend Zürichs, auf welche die Bourgeoisie – war sie auf der Suche nach erotischen oder bewusstseinsverändernden Vergnügungen nicht gerade in den billigen Kaschemmen und schmuddeligen Hinterzimmern unterwegs – stets abfällig hinuntergeblickt hatte. Im Gegenzug hatten sich hier Immigranten wie meine Eltern vor allem wegen der billigen Mietpreise und der weltoffenen Stimmung niedergelassen. In diesem Stadtteil war ich aufgewachsen und ich hatte keineswegs vor, mich von der Invasion finanzstarker Zuzügler, deren opulenten Wohnbedürfnissen eine zahlbare Unterkunft nach der anderen zum Opfer fiel, vertreiben zu lassen. Und so lange mein Vermieter sich standhaft weigerte, die Immobilie zu verkaufen, in der sich meine Wohnung befand, würde ich auch daran festhalten.
Ein dunkler Schreibtisch bildete den Mittelpunkt meines Büros, das gleichzeitig als Wohnzimmer diente. Neben der Eingangstür stand ein abgewetztes Sofa, das ursprünglich für die wartende Klientel gedacht war, wegen mangelnden
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