Uferwechsel
umsah. Eben hatte er noch vor mir gestanden und wie alle anderen Fotos von dem Mann im Kamelhaarmantel geschossen, doch jetzt war er verschwunden. Merkwürdigerweise hatte er seinen Rucksack und die Fototasche zurückgelassen.
Allmählich hörte es ganz auf zu schneien. Hinter dem Absperrband hatten die Männer es endlich geschafft, das Zelt wieder einzufangen, etwas umständlich bewegten sie es jetzt zur Leiche hinüber. Zeitgleich zuckten von der gegenüberliegenden Seite grelle Lichtblitze über die Szene, worauf mehrere Beamte losrannten, um den Eindringling dingfest zu machen. Der Mann, den ich im folgenden Tumult nicht erkennen konnte, war offenbar auf einen Baum geklettert, um von dort die Leiche zu fotografieren. Sofort stellten sich einige Polizisten breitbeinig an die Absperrung, um mögliche Nachahmer einzuschüchtern, während ich jetzt im Scheinwerferlicht José erkannte, der von zwei Beamten unsanft durch den Schnee geschleift wurde. Ich war nicht wirklich überrascht. Erst als er aus der Sperrzone geschafft war, ließen die Polizisten ihn wieder los.
» Joder! Ich hatte es beinahe geschafft! Ein paar Sekunden länger auf dem Baum und ich hätte ein brauchbares Bild hingekriegt. Que mierda! Sieh dir das an! Alles komplett verwackelt!«, fluchte José, als er wieder neben mir stand. Verärgert presste er die Lippen zusammen und starrte auf das Display seines Fotoapparates.
»Wer ist es?«, fragte ich und reckte den Hals, um einen Blick auf die Anzeige zu erhaschen.
»Na gut, wenigstens eine Aufnahme ist halbwegs brauchbar.« José drehte die Kamera zu mir um, sodass ich mir das Bild angucken konnte. Etwas unscharf war darauf ein junger Mann zu sehen, fast noch ein Kind. Selbst in dieser Qualität war unübersehbar, dass er übel zugerichtet worden war. Seine Wangenknochen wirkten eingedrückt, beide Arme und ein Bein waren unnatürlich verrenkt. An der Stelle der Nase war nur noch blutiger Knorpel übrig. Der Junge trug eine fleckige Bluejeans und ein zerschlissenes orangefarbenes T-Shirt mit einem Totenkopf vor gekreuzten Knochen, darüber leuchtete ein riesiges Herz in knalligen Farben. Er hatte die Augen geschlossen, die Partie um den Mund war eingefallen, seine Lippen schimmerten bläulich. Zwanzig Jahre alt schätzte ich ihn etwa, die dunkle Haut war unnatürlich blass, sein Haar schwarz gekraust und kurz geschnitten.
»Bestimmt irgendeine Drogengeschichte«, sagte José tonlos und drehte die Kamera wieder um. »Oder er ist den Glatzköpfen in die Quere gekommen.«
»Dem Aussehen nach könnte er Araber sein«, mutmaßte ich.
»Wir werden sicher mehr erfahren, sobald sich der Oberguru ein Bild von der Sache gemacht hat.«
»Du meinst George Clooney?« Ich hob den Kopf und bemerkte, dass der grau melierte Mann mit dem Kamelhaarmantel argwöhnisch zu uns herüberblickte. Jetzt kniff er die Augen zusammen und kam mit raschen Schritten auf uns zu.
»Sag mal, hast du Sehstörungen? Der ähnelt George Clooney ungefähr so …«
»Halt die Klappe«, zischte ich José zu, doch der ließ sich nicht beirren.
»… wie ich Jennifer Lopez.«
»Wie ich sehe, amüsieren sich die Herren bestens.« George Clooneys schnarrender Tonfall erinnerte mich unangenehm an meinen alten Geografielehrer. Aus der Nähe betrachtet, schwand auch die Ähnlichkeit mit dem amerikanischen Schauspieler, einzig die Haarfarbe und die perfekt sitzende Frisur waren den beiden Herren gemeinsam. Mein Gegenüber hatte ein viel kantigeres Gesicht, das Kinn war vorgeschoben, wie man es oft bei sehr ehrgeizigen Leuten sieht, die Haut straff und gebräunt, die Augen stahlblau: Ein gut aussehender Mittvierziger, der zweifelsohne um seine Wirkung auf andere wusste. Ich fragte mich, ob er Josés letzte Bemerkung mitgehört hatte. Seine Miene jedenfalls war ernst. Auch das unterschied ihn von Mr. Clooney: Aus seinen Augen blitzte kein Funke Ironie.
»Sind Sie nicht Vijay Kumar, der Privatdetektiv?«, sprach mich der Mann an.
Etwas verdutzt bejahte ich. Ich konnte mich nicht entsinnen, ihm schon einmal begegnet zu sein.
»Tobler«, stellte er sich kurz angebunden vor und streckte mir die Hand entgegen. »Staatsanwalt von der Staatsanwaltschaft IV für Gewaltdelikte.«
»Und woher kennen wir uns?«, hakte ich vorsichtig nach. Ich hatte keine Ahnung, was der Mann von mir wollte.
»Ich lese die Zeitung, unter anderem«, erwiderte er mit einem dürren Lächeln. »Der indischstämmige Schweizer, so werden Sie häufig beschrieben. Sie waren
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