Ulysses Moore – Das Labyrinth der Schatten
nachkommst«, flüsterte Jason.
»Rick wird denken, dass ich verrückt geworden bin. Inzwischen glaube ich es schon fast selber.«
»Du hast die richtige Entscheidung getroffen. Aber Rick wird nicht kommen, oder?« Jason sagte das so, als kenne er bereits die Antwort.
Anita schüttelte den Kopf und ließ Jason los. Dann erzählte sie ihm von ihrer Idee, Morice Moreaus Notizbuch zu verwenden, um sich mit den anderen zu verständigen. Jason fand, dass es ein sehr guter Einfall sei. Sie hockte sich hin und schlug das kleine Buch auf, um zu sehen, ob gerade auch einer von den anderen darin blätterte.
In einem der Rahmen erschien das Bild einer Frau, die erschrocken über ihre Schulter nach hinten blickte: Ultima hatte ebenfalls das Buch geöffnet.
Anita legte ihre Fingerspitzen auf das Bild und plötzlich war ihr Kopf von den Gedanken der Frau aus Arcadia erfüllt. Es waren düstere Gedanken, aus denen Anita deutlich Ultimas Angst herausspürte.
»Mach dir keine Sorgen!«, versuchte sie die Frau zu beruhigen. »Ich bin durch die Tür gegangen und es geht mir gut. Jason ist hier bei mir und auch mit ihm ist alles in Ordnung.«
Der Kontakt zwischen ihr und Ultimas Gedanken wurde plötzlich unterbrochen und einen Augenblick später verspürte Anita die Gegenwart eines anderen Menschen. Es war Rick. Und er schien furchtbar wütend zu sein.
»Kannst du mir erklären, was das soll?«, schrie er sie über die Seiten des Fensterbuchs an.
»Ich kann nicht erklären, warum ich es getan habe, Rick. Ich weiß nur, dass ich es tun musste«, sagte Anita und sah Jason Hilfe suchend an.
Jason kniete sich neben sie und flüsterte: »Sag ihm, er soll sich keine Sorgen machen und auf uns warten. Wir werden mit allem Notwendigen zurückkommen.«
Anita gab diese Antwort an Rick weiter, der nun von ihr wissen wollte, was sie vorhatten.
»Na ja, ich fürchte, dass es da nicht allzu viele Möglichkeiten gibt«, erwiderte Anita und schaute zu Zephir hinü ber, dessen große, golden glänzende Gestalt im Licht der Fackeln gut zu erkennen war. Der Riese war bereits einige Schritte in dem Gang vorausgegangen und wartete nun auf sie.
»Werden wir vorsichtig sein?«, fragte Anita Jason leise.
»Ach was«, meinte er grinsend und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Nachdem sie Rick versprochen hatten, regelmäßig mit ihm Kontakt aufzunehmen, schloss Anita das kleine Notizbuch und folgte dem Riesen Zephir auf dem schmalen Pfad, der am Rand des Abgrunds entlangführte. Sie konnten nur hintereinandergehen und mussten sehr gut aufpassen, wo sie hintraten. An manchen Stellen war es so eng, dass sie sich auf Zehenspitzen an der Felswand entlangdrückten. Irgendwann begann der Pfad nach unten zu führen und es gab keine Fackeln mehr. Wenn Zephirs Haut nicht schwach golden geleuchtet hätte, hätten sie ihn gar nicht sehen und ihm auch nicht folgen können, obwohl sie dicht hinter ihm gingen. An manchen Stellen hatte der Pfad schmale Stufen und bald wurden die Stufen mehr und es ging tiefer und tiefer hinunter. Dann hörten sie ein Rauschen, das mit der Zeit lauter wurde, als würden sie sich darauf zubewegen. Sie nahmen an, dass es sich um einen unterirdischen Bach oder Fluss handeln musste, auch wenn sie das Wasser nicht sehen konnten.
Zephir lief mit den Zehen nach dem Pfad tastend voran und Anita und Jason folgten ihm vorsichtig. Ab und zu legte Jason Anita eine Hand auf die Schulter, oder sie wechselten leise ein paar Worte, um sich gegenseitig Mut zu machen.
Auf ihrer Wanderung durch die Dunkelheit hatten sie Arcadia und die Elfenbeintür bald vergessen. Sie wussten nicht, wie lange sie bereits gegangen waren, als sie auf die ersten Behausungen stießen. Eigentlich waren es nur in den Fels gehauene Unterschlupfe, aber es sah aus, als würden sie ein kleines Dorf bilden. Ein Dorf, das wohl seit langer, langer Zeit verlassen war, in dem es aber immer noch Spuren und Hinterlassenschaften von seinen ehemaligen Bewohnern gab. Am Boden lagen Scherben, Pfeilspitzen und andere Überreste, und an den Wänden konnte man, wenn Zephir an ihnen vorbeiging, kleine Wandmalereien erkennen, die Tiere und Jäger mit Speeren darstellten.
Anita fuhr mit den Fingern über eine dieser Zeichnungen und hatte das Gefühl, als spüre sie, wie die Zeit unter ihren Händen vorbeifloss. Sogar die Luft fühlt sich hier uralt an, dachte sie im Weitergehen.
Sie folgten dem Pfad weiter nach unten und entdeckten dort größere Wohnstätten: riesige, in den Fels
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