Ulysses Moore – Das Labyrinth der Schatten
essen.«
Nestor zuckte mit den Schultern, nahm seinen Teller und kippte den Inhalt auf den eigenen. »Gewöhnungssache«, meinte er dann noch.
»Wie dem auch sei, Kilmore Cove gibt es jedenfalls wirklich«, sagte Tommaso.
Ohne etwas darauf zu sagen, löffelte Nestor seinen Teller leer.
»Und in Kilmore Cove gibt es Türen. Die Türen führen an andere Orte. Manche davon sind schön, andere sind furchtbar. Wenn die Türen verschlossen sind, ist alles in Ordnung. Und sonst …«
Nestor hob den Löffel. »Sonst bekommst du am Ende noch heraus, dass das wenige, was du über die Welt weißt, falsch ist. Und dann möchtest du herausfinden, warum das so ist. Und vergeudest dein ganzes Leben da mit. Und vielleicht riskierst du auch wie Leonard, dabei vor der Zeit zu sterben.«
Tommaso wartete, bis der alte Gärtner fertig gegessen hatte. Dann legte er den Ordner mit den Fotos der Ca’ degli Sgorbi auf den Tisch. »Aber vielleicht könnte uns das hier helfen, Antworten zu finden.«
»Da habe ich so meine Zweifel, Junge. Aber schlag ihn ruhig auf.« Nestor deckte ab, setzte sich dann wieder an den Tisch und sah sich mit einem betont gelangweilten Gesichtsausdruck die Bilder an.
»Hier«, sagte Tommaso und zeigte auf ein Foto. »Das hier stellt ein kleines Dorf dar. Das könnte unser erträumter Ort sein.«
Nestor nickte. »Ja, könnte.«
»Und hier sieht man zwei Männer, die Äste von einem Baum absägen. Gleich daneben bauen dieselben Männer eine Tür. Eine Tür zur Zeit vielleicht?«
»Oder aber ein Nachtschränkchen.«
Tommaso beachtete die ironische Bemerkung des Gärtners nicht weiter und fuhr fort: »Moreau zeigt hier, dass man für eine Tür das Holz eines Baumes braucht. Aber von welchem Baum? Ich glaube, dass er es wusste. Und dass er es hier zu sagen versucht. Diese ganze Wand wird von den Ästen eines Baumes bedeckt. Auf den Ästen sitzen alle Tiere der Schlüssel. Schau mal, du kannst sie zählen.«
Nestor tat es. »Es sind mehr Tiere, als wir Schlüssel haben.«
»Es sind insgesamt elf Tiere. Wenn man die drei Schildkröten, das Symbol der Erbauer der Türen, als eines mitzählt, sind es zwölf.« Tommaso machte es großen Spaß, seine Entdeckung mit jemandem zu teilen. »Und schau dir mal das hier an.« Er zeigte auf ein anderes Foto. »Hier. Hier sind zwei Bäume. In diesem Teil des Bildes geht ein Mann auf einen Baum zu. Und in diesem anderen Teil entfernt er sich wieder. Es ist derselbe Mann, aber die Landschaft hinter ihm hat sich verändert. Es sind also die Bäume, die einem ermöglichen, von einem Ort zu einem anderen zu gelangen. Es müssen ganz besondere Bäume sein, und die Frage ist natürlich, was es für Bäume sind. An dieser Stelle ist das Foto sehr dunkel, aber man kann trotzdem erkennen, dass die Wurzeln des Baumes in der Luft hängen. Eigentlich wird es hier so gezeigt, als würden die Wurzeln im Wind schaukeln, denn hier sind lauter feine Striche. In den Büchern von Ulysses Moore steht, dass jedes Mal, wenn man eine Tür zur Zeit öffnet, ein plötzlicher Luftzug entsteht. Das ist der Wind, der die beiden Welten verbindet. Die Wurzeln der Bäume halten die Welten zusammen.«
An der Tür klopfte es. Zwar leise, aber Tommaso zuckte trotzdem zusammen.
»Das ist Julia«, erklärte Nestor mit belegter Stimme.
Als Tommaso aufstand, um ihr die Tür aufzumachen, zog Nestor die Fotos zu sich herüber und betrachtete sie konzentriert. Es gab keinen Zweifel, der Junge hatte sich nicht geirrt. Und er hatte eine unglaubliche Entdeckung gemacht. Vielleicht sah Nestor jetzt zum ersten Mal eine Antwort vor sich, nach all den Jahren ergebnislosen Suchens. Zwei Bäume. Der Wind in ihren Wurzeln.
Jetzt gab es einiges zu tun. Er stand auf und hinkte durch den Raum, um ein paar Bücher zusammenzusuchen.
»Habe ich etwas versäumt?«, fragte Julia beim Eintreten.
»Oh nein, nichts Wichtiges. Nur die Bauanleitung für die Türen zur Zeit«, erwiderte Tommaso mit einem zufriedenen Grinsen.
»Und wie lautet die?«
»Hm … Zuerst müssen wir einen Baum finden, um dessen Wurzeln der Wind weht.«
»Und was hält Nestor davon?«
Tommaso zuckte mit den Schultern. Sie gingen gemeinsam zu dem Tisch, an dem Nestor jetzt wieder saß und fieberhaft in einem dicken Buch herumblätterte, das sich Alphabetisches Verzeichnis der unmöglichen Gegenstände nannte.
»Und das hier sind die Fotos? Sie sind ziemlich dunkel.«
Tommaso war das auch schon aufgefallen. Aber sie waren alles, was sie an Hinweisen
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