Ulysses Moore – Das Labyrinth der Schatten
sie in den letzten Stunden mindestens zehnmal vorbeigekommen waren. Die Sonne stand kurz davor unterzugehen oder war bereits untergegangen. Genau konnte man es nicht sehen, weil über dem Horizont eine Wolkenwand stand.
Der Chauffeur der Brandstifter hatte sich an den Straßenrand gesetzt und sich eine Zigarre angezündet. Heiter und unbeschwert genoss er den Sonnenuntergang. So, als ob alles in Ordnung wäre. Sein Anblick machte Voynich wahnsinnig. Er kochte vor Wut. Er schäumte über. Aus allen Poren seiner Haut spritzen Funken. Mit hasserfülltem Blick blieb er zwei Schritte hinter dem Chauffeur stehen, doch dieser drehte sich nicht einmal um und rauchte genüsslich weiter.
»Du weißt, dass du entlassen bist?«, fauchte der Chef der Brandstifter ihn an.
»Ja, einverstanden«, antwortete der Chauffeur ruhig. »Wenn Sie möchten, übergebe ich Ihnen die Autoschlüssel sofort.«
Ja klar, dachte Voynich. Wie nett von ihm: Er gibt mir die Autoschlüssel. Nur leider kann ich gar nicht Auto fahren. Und außerdem stehen wir gerade mitten im Nirgendwo.
Mitten in einem Nirgendwo, in dem es ein bisschen nach Stallmist roch. Und in dem es leise brummte und summte, als wären Milliarden von Insekten unterwegs. Winzige sechsbeinige Lebewesen, die im Gras herumkrabbelten oder sich in ihren Verstecken schon auf die in Kürze bevorstehende Nacht freuten.
Um sich ein wenig von seiner Wut abzulenken, stellte Voynich sich vor, die Hochebene über dem Meer, auf der er sich befand, sei anstatt von Gräsern und anderen Pflanzen nur noch von Asche bedeckt. Dieser Gedanke heiterte ihn ein wenig auf und gab ihm die Kraft, sich wieder mit dem Chauffeur zu befassen.
»Du weißt doch, dass du unfähig bist, oder?«
Der Chauffeur zog lange an seiner Zigarre.
»Unter all den unfähigen Chauffeuren der Welt bist du der unfähigste.«
»Sie haben mir gesagt, wo ich hinfahren soll«, erinnerte ihn der Chauffeur, ohne die Augen von den roten Wolken am Horizont abzuwenden.
»Was willst du damit sagen?«
»Es kann ja gut sein, dass ich unfähig bin, aber Sie haben auch nicht gerade geglänzt.«
Malarius Voynich ballte die Hände zu Fäusten, bis sich die Fingernägel in seine Handfläche bohrten und sie bluteten. Aber er sagte kein Wort.
Wenn sie woanders gewesen wären, in London zum Beispiel, hätte er den Chauffeur bestraft. Er hätte ihn zum Beispiel dazu gezwungen, an einem Touristenspaziergang durch die Kanalisation der City teilzunehmen, er hätte sein Haus beim nächsten Gewitter in Brand gesetzt oder aber die Hunde des Chauffeurs zu Schaschlikspießchen verarbeitet.
Aber hier, mitten im Nirgendwo, war ihm klar, dass dieser vollkommen unfähige Chauffeur der Einzige war, der ihn wieder nach Hause zurückbringen konnte. Oder aber irgendwo anders hin, an einen Ort, an dem es wenigstens ein bisschen mehr Zivilisation gab als auf dieser verdammten Wiese.
Also musste er ihn gezwungenermaßen am Leben lassen.
»Zwei Stunden lang bist du hier herumgeirrt«, zischte Malarius Voynich und zeigte auf die schmale Straße, die am Meer entlang und dann an bewaldeten Hügeln hinaufführte.
» Wir sind herumgeirrt«, verbesserte ihn der Chauffeur.
»Wir können es gar nicht übersehen haben!«
»Vielleicht gibt es dieses verflixte Dorf ja gar nicht«, meinte der Chauffeur und zog wieder an seiner Zigarre.
»Aber natürlich gibt es das Dorf! Die Brüder Schere sind doch erst gestern dort gewesen!«
»Sie werden es eingeäschert haben. Oder sie haben Ihnen irgendetwas Falsches erzählt. Oder vielleicht liegt es gar nicht in Großbritannien.«
»Kilmore Cove«, kreischte Voynich, » liegt in Großbritannien, in der Nähe von Zennor, du Versager!«
Zwischen den Fingern des Chauffeurs klirrte etwas. »Das hier sind die Schlüssel. Und da steht das Auto. Sie sehen hier drüben die Straße … Tun Sie, was Sie für richtig halten.«
Außer sich vor Wut griff Voynich nach den Schlüsseln und ging um das Auto herum. Bei dem Versuch, die Fahrertür zu öffnen, verrenkte er sich beinahe die Schulter.
»Sie müssen zuerst die Diebstahlsicherung deaktivieren«, sagte der Chauffeur seelenruhig.
Voynich zwang sich, bis zehn zu zählen und tief durchzuatmen. Doch schon bei drei hielt er es nicht mehr aus und schleuderte die Schlüssel in weitem Bogen auf die Straße.
Dann klingelte sein Mobiltelefon. Eco war dran.
»Was gibt’s?«, brüllte Voynich in sein Handy.
»Ich bin es, Chef.«
»Das weiß ich leider. Was zum Teufel willst
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