Ulysses Moore – Das Labyrinth der Schatten
besaßen.
»Ach, ich wusste es«, murmelte Nestor. »Wenn man wirklich einmal etwas wissen will, steht es in keinem Buch drin.«
»Was suchst du denn?«, fragte Julia.
»Ich habe einen bestimmten Baum gesucht, aber in dem Verzeichnis steht, dass man unmögliche Pflanzen in dem Herbarium der niemals gepflanzten Gewächse suchen soll, von dem es nur eine einzige Ausgabe gibt, die 1793 in England erschienen ist.«
»Und natürlich haben wir dieses Buch nicht«, vermutete Julia.
»Doch, wir haben es. Aber es steht drüben in der Villa«, grummelte Nestor.
»Wenn du willst, hole ich es dir.«
»Nein, ich gehe ja schon. Lass du dir inzwischen von Tommaso erzählen, ob er noch irgendetwas anderes entdeckt hat.«
Nestor verließ sein Haus und war bald zwischen den Schatten des Gartens verschwunden.
»Ist der immer so brummig?«, fragte Tommaso, als Julia und er alleine waren.
»Ach was«, antwortete Julia. »Heute hat er bessere Laune als sonst.« Sie schlug das Notizbuch von Morice Moreau auf, das sie aus Kalypsos Haus geholt hatte, weil sie hoffte, dass noch jemand anders gerade darin blätterte. Doch die Rahmen blieben leer, und bei Julia kam der Verdacht auf, dass dieses Buch vielleicht nicht über dieselben Eigenschaften verfügte wie die anderen beiden. Und dass es somit gar kein richtiges Fensterbuch war.
»Die andere interessante Sache ist diese Mine …«, sagte Tommaso gerade zu ihr. »Siehst du hier? Moreau hat an dieser Stelle einen senkrechten Spalt in den Felsen gemalt, mit zwei Löchern, aus denen Männer herauskommen …«
»… die Steine schleppen.«
»Genau. Die Steine kommen in etwas, das wie eine Esse aussieht, und die Flüssigkeit, die auf dieser Seite hinausläuft, müsste logischerweise geschmolzenes Metall sein. Das wird dann in unterschiedliche Formen gegossen und das Ergebnis sind …«
»… ein Schlüssel …«, flüsterte Julia überwältigt.
»… und ein Schloss«, fügte Tommaso hinzu, »die beide aus demselben Material hergestellt worden sind.«
Julia nickte nachdenklich. »Und die Tiere? Warum hat Moreau so viele Tiere gemalt?«
»Das habe ich noch nicht herausbekommen«, gab der Junge zu. »Aber apropos Tiere: Da ist etwas, das meiner Meinung nach wichtig sein könnte und das ich dir zeigen will.«
Tommaso suchte eine Weile nach dem richtigen Foto, nahm einige Aufnahmen aus dem Ordner heraus, legte sie auf die Tischplatte, probierte verschiedene Reihenfolgen aus und schien schließlich zufrieden zu sein. »Hier! Siehst du?«
»Was?«
»Die Tiere sehen alle zu demselben Punkt des Freskos hin.«
»Das stimmt. Aber ich sehe nirgends das entsprechende Detail. Was ist denn an der Stelle?«
Tommaso suchte wieder nach einem bestimmten Bild. »Es ist der Teil des Freskos, auf den ich einen Eimer Farbe gekippt habe. Damit die Brandstifter es nicht entdecken können …«
Endlich hatte er das gesuchte Foto gefunden und legte es vor Julia auf den Tisch.
»Das sieht ja aus wie …«, murmelte Julia verblüfft.
»… wie ein Labyrinth«, ergänzte Tommaso.
Kapitel 8
Das Schwarze Tal
Wasser.
Pechschwarze Finsternis.
Jenseits der Elfenbeintür war der Boden sehr feucht und ge fährlich rutschig. An den ebenfalls feuchten Wänden, an denen das Wasser in kleinen Bächen herunterlief, waren in regelmäßigen Abständen Halterungen angebracht. In ihnen steckten große Fackeln, die den engen Gang mit ihrem schwachen bläulichen Licht notdürftig erhellten.
Unsicher und vorsichtig ging Anita immer weiter, bis sie plötzlich feststellen musste, dass der Gang zu einem Abgrund führte – zu einem Spalt im Felsen, der wer weiß wie tief in die Eingeweide der Erde hinabreichte.
Sie sah hinunter und wurde sofort von einem überwältigenden Schwindelgefühl ergriffen.
Dann hob sie den Blick wieder und stellte fest, dass das, was ihr vorhin wie der Schatten eines Felsvorsprungs vorgekommen war, Jason war. Er stand genau am Rand des Abgrunds, nur wenige Schritte von ihr entfernt. »Du hast aber lange gebraucht, um dich zu entscheiden«, sagte er.
In dem schwachen Licht konnte Anita ihn gerade so erkennen. Sie war derart froh darüber, wieder bei ihm zu sein, dass ihr Schwindelgefühl, die Müdigkeit und die Erschöpfung dieses endlos langen Tages verschwanden. Ohne lange darüber nachzudenken, ging Anita auf Jason zu und umarmte ihn erleichtert. »Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen!«, sagte sie mit gebrochener Stimme.
»Und ich hatte schon gezweifelt, ob du überhaupt noch
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