Ulysses Moore – Das Labyrinth der Schatten
das?«
»Das Gasventil! Du musst es ein bisschen zudrehen.« Dann sah Jason nach unten. Der Schatten hatte keine Augen und auch keine festen Umrisse.
Er bestand aus reiner Dunkelheit, und es sprühten Funken, als seine schwarzen Krallen Stein berührten.
Anita fand das Ventil, drehte es etwas zu und der Ballon sackte ein Stück weit ab.
»Nein! Ihr müsst hier weg!«, schrie Zephir.
Der Schatten war nur noch ein paar Sprünge von ihm entfernt.
»Möge das Glück mit euch sein, ihr zwei!«, rief der Riese Zephir zu ihnen hoch und hob grüßend eine Hand zum Abschied.
»NEIN!«, schrie Jason, als der Schatten unter dem Korb vorbeihastete. »Nein! Ich lasse dich nicht zurück!«
Entsetzt merkte Anita, dass Jason den Korbrand losließ. Sie musste ihn loslassen, um nicht kopfüber hinterhergezogen zu werden. Dann sah sie nach unten. Etwas Dunkles, Unförmiges nahm den Raum unter dem Ballonkorb ein und verschwand dann in einer Staubwolke.
»NEIN!«, schrie sie verzweifelt. »NEIN! NEIN! DAS KANN DOCH NICHT SEIN!«
Staub und Schatten bewegten sich ständig. Etwas sprang nach oben und riss an dem Korb.
Anita verlor den Halt, fiel rücklings nach hinten und schlug sich an etwas Hartem den Kopf an.
Sie verlor das Bewusstsein.
Langsam und sachte begann der Heißluftballon aufzusteigen, auf das Loch in der Decke zu.
Währenddessen wogte die Staubwolke hin und her und schleuderte Steine und Mauerbrocken in alle Richtungen. Dann flammten wieder goldene Blitze auf.
Es gab Schreie.
Und wieder goldene Blitze.
Und Flammen. Hohe Flammen inmitten von Schatten, Trümmern und Staub.
Schreie und Funken.
Und Krallen.
Anita, die mit geschlossenen Augen im Korb des Ballons lag, nahm dies alles unbewusst wahr, wie in einem Traum.
Sie träumte, sie sähe das Labyrinth von oben, und aus dieser Perspektive sah es aus, als wäre es auf dem Panzer einer riesigen Schildkröte erbaut worden. Dann gab es in Anitas Traum noch ferne, aufblitzende Lichter. Und Gestalten, die im Dunkeln tanzten, und flatternde Segel, oder vielleicht waren das auch die Flügel dieser Gestalten.
»Jason«, murmelte Anita, während der Weidenkorb unter dem Ballon ins Schaukeln geriet, als würde er in ein Unwetter hineinfliegen. »Jason, das kann doch nicht sein …«
Sie träumte vom Tod, von Staub und von der Finsternis.
Aber auch von Gold, von Hoffnungen und von ihren Freunden.
Kapitel 23
Ein neuer Morgen
Marius Voynich wachte ausgesprochen gut gelaunt auf.
Und somit ganz anders als sonst. Denn normalerweise war er morgens beim Aufwachen immer besonders schlecht aufgelegt. An diesem Morgen aber war er sich sicher, dass ein wunderbarer Tag vor ihm lag.
Er setzte sich auf die Bettkante. Obwohl er wie immer morgens Rückenschmerzen hatte, gab er heute nicht der Matratze die Schuld.
Stattdessen pfiff er eine lustige Melodie.
Und hörte ganz plötzlich damit auf, als ihm einfiel, dass er ja eigentlich gar nicht pfeifen konnte.
Aber irgendwie konnte er es doch. Über diese Entdeckung war er hocherfreut und pfiff gleich darauf weiter.
Er hätte noch viel länger gepfiffen, wenn er genügend Melodien gekannt hätte. Doch er hatte niemals Zeit damit verbracht, Musik zu hören, und es fielen ihm deshalb bald keine weiteren Lieder zum Pfeifen mehr ein.
Er stand auf und machte sich für den Tag zurecht. Während er vor dem Spiegel stand und sich energisch die Zähne putzte, nahm er sich vor, seine Ansichten über Musik zu überdenken. Im Grunde sprach ja nichts dagegen, ein paar Melodien zu kennen, die man dann nachpfeifen konnte, wenn einem der Sinn danach stand.
Beim Anziehen überlegte er, woher wohl seine ungewohnt gute Laune kommen mochte. Vor einigen Stunden erst hätte er am liebsten seinen Chauffeur geköpft und ganz Cornwall in Schutt und Asche gelegt, und alle seine Probleme waren ihm unüberwindlich erschienen, bedrohlich und so, als könnten sie seine Welt zerstören.
Doch nach dem Telefongespräch mit seiner Schwester war plötzlich alles anders gewesen.
Seine Rebellion war der Wendepunkt gewesen.
Endlich hatte er dieser Hexe gezeigt, dass er etwas tun konnte, ohne dafür vorher ihre Genehmigung einzuholen. Wie zum Beispiel auf Reisen gehen.
Und gerade diese kleine Lüge, die er sich gegen Ende ihres Gesprächs gestattet hatte, die Behauptung, er sei zu seinem Vergnügen unterwegs, hatte sich als außerordentlich befriedigend erwiesen.
Oh ja. Zum ersten Mal hatte er eine eigene Entscheidung getroffen.
»Marius«, sagte er zu seinem
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