Ulysses Moore – Das Labyrinth der Schatten
Spiegelbild und erschrak beinahe vor dem Klang der eigenen Stimme.
Es war Jahre her, seit er seinen wirklichen Namen das letzte Mal ausgesprochen hatte. Ein Name, den er gehasst hatte, weil Viviana ihn ständig benutzte. Marius, tu dies nicht. Marius, tu das nicht. Marius, das tut man nicht! Marius, das ist verboten! Marius, ich habe Nein gesagt!
Er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, war seine Wut bereits verflogen.
Auf dem kleinen Schreibtisch in seinem Hotelzimmer warteten weitere Überraschungen auf ihn.
Da war zum einen dieses wunderbare sprechende Buch. Marius Voynich fuhr mit den Fingern über die Oberfläche und verspürte dabei das gewohnte Prickeln.
Oder nein … Es war anders als sonst. Denn dieses Mal wurde das Prickeln nicht von dem Verlangen ausgelöst, das Buch zu verbrennen oder zu vernichten. Das Prickeln kam daher, dass er das Buch aufregend fand. Es war, als sei es jenseits des Punkts geschrieben und illustriert worden, an dem die Verbote seiner Schwester begannen. Als sei es in genau dieser Traumwelt entstanden, die Voynich zu hassen und zu zerstören gelernt hatte.
So, als sei die reale Welt nicht ebenso ge fährlich.
Wer weiß, was Viviana sagen würde, wenn sie wüsste, dass er in der vergangenen Nacht einem Fremden geholfen hatte, ein Rätsel zu lösen, und dass er sich kurz darauf über die Seiten eines Buches mit einem weiteren Fremden verabredet hatte.
Vielleicht hätte er ihr gestanden, dass ihm dieses Buch allmählich zu gefallen begann. Und dass die Menschen, denen er auf dessen Seiten begegnete, etwas ganz Besonderes an sich hatten. Etwas, das ihm das Gefühl gab, lebendig zu sein. Und dann das Rätsel! Es war eine exotische Version eines berühmten Rätsels, das von den Physikern »Einsteinrätsel« genannt wurde. Dabei war die Lösung so leicht gewesen!
Wie ein Blitz durchzuckte ihn eine Erinnerung. Ein weißer Blitz, weiß wie die Kittel der mit Viviana befreundeten Ärzte, die ihn als Kind gezwungen hatten, all seine Erlebnisse zu berichten. Seine Schwester war nämlich davon überzeugt gewesen, dass Marius verrückt war.
Und weil er einerseits nichts zu erzählen hatte, die Ärzte es aber ständig von ihm verlangten, hatte Marius Erlebnisse erfunden und auch Dinge und Orte.
Und die Ärzte hatten dann immer verständnisvoll genickt und gesagt: »Diese Dinge existieren nicht. Es gibt sie nicht. Die Welt funktioniert anders, Kleiner.«
Die Welt funktioniert anders, dachte Voynich jetzt und verscheuchte die Erinnerung an die Ärzte und an seine Schwester.
»Geht alle weg!«, sagte er laut, um sie aus seinen Gedanken zu vertreiben.
Er sah auf die Uhr. »Ich habe einen wichtigen Termin.«
Das Letzte, was er in seinen Koffer packte, war das Manuskript seines Romans Liebe lässt sich nicht lenken.
Es war eine romantische, leichte und sanfte Geschichte, für die er die letzten 57 Jahre gebraucht hatte. Und die bis gestern Abend, als er das Hotelzimmer in Zennor betreten hatte, nur 57 maschinengeschriebene Seiten umfasst hatte.
57 perfekte Seiten.
Vollkommen fehlerfrei.
Flüssig und gut geschrieben.
Raffiniert geschrieben.
Seiten, die wohl jeden anderen Londoner Kritiker in Rage versetzen würden, weil sie unangreifbar waren. Tadellos, und deshalb unmöglich zu verreißen.
Und dann war gestern Abend etwas sehr Seltsames passiert.
Nachdem er sich auf das Bett gelegt hatte, dem er seine jetzigen Rückenschmerzen verdankte, hatte Marius Voynich ungefähr zehn Seiten seines Manuskripts verworfen, weil er sie auf einmal ziemlich langweilig fand.
Unattraktiv. Zu wenig originell. Und viel zu traurig.
Er hatte die ersten Passagen durch spritzige, ansprechende Sätze ergänzt. Er hatte darauf verzichtet, den hellblauen Hut seiner Heldin auf zwei ganzen Seiten zu beschreiben, und die Handlung nun wesentlich temporeicher gestaltet, als es ursprünglich geplant war.
Dann hatte er mit der Hand mindestens zwanzig neue Seiten geschrieben.
Als er jetzt neben seinem Koffer stand und diese zwanzig Seiten nochmals durchlas, bekam er Herzklopfen.
Sie waren gut.
Und es waren zwanzig Seiten, die er in weniger als drei Stunden geschrieben hatte.
»Jetzt aber los!«, sagte er, legte das Manuskript in den Koffer, verschloss ihn und verließ mit ihm das Zimmer.
In der Villa Argo wurde Julia am Morgen von ihrer Mutter geweckt. Sie war mit dem Notizbuch von Morice Moreau in der Hand eingeschlafen.
»Glaubst du, du kannst heute zur Schule gehen?«
Julia war noch nicht ganz
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