Ulysses Moore – Die Stadt im Eis
Versuchen gelang es Anita, die Tür des Archivs aufzubrechen. Wertvolle Hilfe leistete ihr dabei ein Hocker aus einem der benachbarten Räume.
Im Archiv war es stockfinster. Zuerst konnte sie die drei darin aufgestellten Rollbetten kaum sehen. Nach dem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, blieb ihr beinahe das Herz stehen, als sie erkannte, dass auf den Liegen drei Personen lagen. Nestor, Black Vul cano und …
»Papa!«, rief sie und lief zu ihm.
Mr Bloom hatte die Augen offen, konnte sich aber kaum bewegen. Ein Knebel hinderte ihn daran zu sprechen. Als Anita ihn entfernt hatte, schenkte er ihr ein schwaches Lächeln. »Meine Kleine«, sagte er so leise, dass sie es kaum hören konnte.
»Papa!«, wiederholte Anita mit brechender Stimme. Ihr zitterten die Knie. »Papa! Was ist dir denn passiert? Was hat man mit dir gemacht?«
Langsam drehte er den Kopf von einer Seite auf die andere. Er lag vollkommen angekleidet auf dem Klappbett. Sein Anzug war durchnässt und voller Algen und Schlamm.
»Ich … kann … mich … nicht … erinnern«, brachte er mühsam hervor. »Wir saßen … in dem Lokal am Meer, als …«
»War es Doktor Bowen?«, fragte Anita, bevor er den Satz beenden konnte.
Das Mädchen sah zu Black Vulcano hinüber, der auf dem Bett nebenan schnarchte. Und dann zu Nestor, der ebenfalls schlief.
Es konnte kein Zufall sein, dass ausgerechnet diese drei hier drinnen eingesperrt waren. Und sie hätte darauf wetten können, dass ihr Schlaf kein natürlicher war.
Sie waren betäubt worden!
»Doktor … Bowen«, wiederholte Mr Bloom. »Ja, ich … erinnere mich … Ja, vielleicht … war auch er dabei … und wir … Wir hatten es beinahe geschafft …«
»Was geschafft, Papa?«
Der Mann sah sie an und lächelte. »Anita«, flüsterte er.
»Du kannst dich tatsächlich an nichts erinnern, nicht wahr?«
Er schüttelte langsam den Kopf.
»Schaffst du es denn aufzustehen?«, fragte sie sanft.
Er versuchte, sich zu bewegen. Dann gab er es auf und schüttelte den Kopf.
»Vielleicht … noch ein Weilchen«, murmelte er. »Was ist mit den anderen?«
»Sie schlafen noch«, informierte Anita ihn. »Warte mal. Ich hole noch jemanden und dann …«
»Anita«, rief ihr Vater sie zurück.
»Was ist?«
»Es geht mir gut. Ich bin nur … furchtbar müde.«
»Ich weiß, Papa. Aber du wirst sehen, dass …«
Anita unterbrach sich, weil ihr gerade eingefallen war, wie Dr. Bowen ihren Vater und die anderen in diesen Zustand versetzt haben könnte: der Schlaftrank, den sie in der Apotheke gefunden hatten! Und wenn Jason, dieser Egoist, nicht so plötzlich verschwunden wäre, hätte sie das Gegenmittel zur Hand gehabt. Nämlich die Fläschchen mit dem Blitzaufwachtrank, die jetzt in der Jägertasche lagen.
Mr Bloom drückte matt ihren Arm und riss Anita dadurch aus ihren Grübeleien. »Keine … Sorge, mir … geht es gut. Du musst deine Mutter anrufen … sagen, dass … du … in Ordnung … «
»Mama!« Anita überlief es heiß und kalt. In den letzten Tagen hatte sie Unvorstellbares erlebt: Sie hatte Welten bereist, die nur in Büchern existierten, war in einem Labyrinth herumgeirrt und Ungeheuern und einem Geheimbund begegnet, hatte eine Überschwemmung und einen skrupellosen Arzt überlebt − und bei all dem nicht einmal die Zeit gehabt, an ihre Mutter auch nur zu denken.
Sie macht sich sicher furchtbare Sorgen, dachte Anita und errötete vor lauter Schuldgefühl.
Ihr Vater lächelte sie verständnisvoll an. »Sie haben mir … von dem Notizbuch erzählt …«
Anita war mehr als überrascht. »Sie haben dir von dem Notizbuch erzählt? Wer denn? Und was haben sie gesagt?«
»Ich kann mich nicht mehr … gut … erinnern.« Stöhnend versuchte Mr Bloom, sich auf die Seite zu drehen, schaffte es aber nicht.
Anita tat es weh, ihn so hilflos zu erleben. »Papa, vielleicht solltest du nicht …«
»Zeigst du … es mir?«
»Wie bitte?«, fragte sie, über die Frage verwundert. »Das kleine Buch? Morice Moreaus Notizbuch? Aber natürlich zeige ich es dir!«
Mit fieberhafter Eile zog Anita Moreaus Notizbuch aus der Tasche und reichte es ihrem Vater. Dabei flog ihr besorgter Blick ständig zwischen den beiden schlafenden Männern und der aufgebrochenen Tür hin und her. Sie befürchtete, Dr. Bowen könnte jeden Moment zurückkommen.
»Ach …«, flüsterte ihr Vater ehrfürchtig. »Das … ist es also.«
Anita schlug es vor ihm auf.
»Ich habe ein anderes … gesehen … sieht …
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