Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
das Kind, in seinem Bett zu nächtigen. Vertrauensvoll kuschelte sich Richard unter die Decke.
Die Hände im Dunkeln kamen ohne Vorwarnung, fordernd, schleichend, unerbittlich. Richards Körper wehrte sich, drehte sich, rückte weg. Doch die Hände waren zu groß und stark und ohne Erbarmen. In Angst erstarrt, blieb er schließlich liegen.
Am nächsten Morgen rannte der 13-Jährige zutiefst verletzt, erniedrigt und geschockt nach Hause, in Sicherheit. Er schaffte es jedoch nicht, mit seiner Familie darüber zu sprechen.
So geschah es, dass Wilhelm ein paar Wochen später den gleichen Übergriff erdulden musste. Der Kreis hatte sich geschlossen. Nach einem Telefonanruf Gäfgens, in dem er Richard drohte, ihn umzubringen, wenn er sich nicht meldete, vertrauten sich die beiden Brüder ihrer Mutter an.
Das Leid ihrer Söhne sollten andere Kinder nicht erdulden müssen. Die Mutter schaltete das Jugendamt ein, das Magnus eine Kontaktsperre zu den beiden Brüdern erteilte, informierte die Schule, sprach mit dem Pfarrer der katholischen Gemeinde und kontaktierte Magnus’ Mutter. Frau B. wurde nicht ernst genommen und mit Ausflüchten kaltgestellt. Sie hatte keine Beweise. Von einer Anzeige wurde ihr abgeraten, um ihre beiden Söhne nicht noch mehr zu traumatisieren.
Gäfgen streitet bis heute ab, sich an den beiden Jungen vergangen zu haben.
»Ich wusste, dass ich einen Namen sagen musste, die wollten einen Namen hören.« Da habe er überlegt, dass es zumindest keiner seiner Freunde sein soll. Da habe er »von der alten Geschichte« die Namen der beiden Brüder genannt.
Er habe einfach nur ein paar Stunden in Ruhe gelassen werden wollen. Man habe ihn aber nicht in Ruhe gelassen, sondern ihn stattdessen mit der Frage bedrängt: »Wo ist die Hütte?« Er habe dann vom anderen See erzählt, weil er Zeit und Ruhe hätte haben wollen.
Er habe die ganze Geschichte erzählen wollen, dies sei aber an dem Abend nicht mehr gegangen. »Ich hätte nur gesagt, wo der tote Junge ist, und die hätten sich keine Mühe mehr gemacht, mich und meine Beweggründe zu verstehen.«
(aus dem Vortrag des psychiatrischen Gutachters von Magnus Gäfgen)
Um 6.35 Uhr beorderte Vizepräsident Daschner Polizeiführer Edwin F. und Kriminaloberrat Werner T. [Name geändert], der Edwin F. in Kürze ablösen sollte, zu einer Lagebesprechung in den Nebenraum der Befehlsstelle. Die am Vorabend angeforderte Einsatzkonzeption lag nicht vor, eine strukturierte Planung des weiteren Vorgehens war nicht erkennbar. Beide mussten auf konkrete Nachfrage einräumen, dass alle polizeilichen Möglichkeiten ausgeschöpft und ohne Erfolg geblieben waren. Hilfloses Achselzucken, vielleicht die Hoffnung auf ein Wunder. Nicht einmal die Vernehmung Gäfgens war am frühen Morgen wieder aufgenommen worden; er schlief ungestört in seiner Zelle, während Jakob wahrscheinlich unter Todesangst und schmerzhaften Krämpfen litt, seine Eltern und Geschwister sich in Sorge um ihn quälten.
Daschner fasste den Stand der bisherigen Aufklärungssituation zusammen:
»Gäfgen hat im Beisein seines Anwalts angegeben, dass Jakob lebt und bewacht werde. Seit dem Morgengrauen werden deshalb die Waldgebiete und die Hütten um den Langener Waldsee und den Walldorfer Badesee abgesucht, bisher wurde jedoch keine Spur gefunden. Die Brüder B. sind verhaftet worden und werden in wenigen Minuten verhört. Statt in der Hütte mit Jakob befanden sie sich in ihren Wohnungen im Bett.
Stefan S. behauptete, dass die Angaben Gäfgens nur ein erneutes Lügengebäude wären. Das widersprach dem Eindruck einiger Kollegen, die davon ausgingen, dass Gäfgen die Wahrheit gesagt haben könnte. Deshalb müssen beide Alternativen in die weitere polizeiliche Einsatzplanung einbezogen werden.
Jakob befindet sich nun seit drei Tagen und 20 Stunden in der Hand der Entführer. Wir müssen vom Schlimmsten ausgehen, nämlich, dass er seitdem nicht mehr versorgt wurde und wegen des Flüssigkeits- und Nahrungsentzugs in akuter Lebensgefahr schwebt. Wir wissen nicht, ob er verletzt ist. Oder ob er überhaupt noch lebt. Aber es ist unsere Pflicht als Polizisten und als Menschen, so lange nicht das Gegenteil bewiesen ist, davon auszugehen, dass der Junge zu retten ist.«
Daschners Stimme klang entschlossen und duldete keinen Widerspruch. Edwin F. ahnte, welchen Schritt Daschner zu gehen bereit war. Ihm sei, so behauptete er später, dabei nicht wohl gewesen, aber ihm fiel keine Alternative ein, niemandem fiel eine
Weitere Kostenlose Bücher