Um Leben und Tod - Ennigkeit, O: Um Leben und Tod
Daschner wollte wissen, was genau ich Gäfgen gesagt hatte. Offensichtlich hatte den Vizepräsidenten der polizeiliche Alltag eingeholt: Neben seiner eigentlichen Aufgabe hatte er den gesundheitlich angeschlagenen Behördenleiter zu vertreten, war verantwortlich für die Fertigstellung des Neubaus und musste darüber hinaus den ordnungsgemäßen Umzug von mehr als 2300 Beschäftigten aus 17 Liegenschaften Anfang November 2002 sicherstellen.
Ich machte mir Gedanken, wie ich reagieren sollte, wenn Gäfgen erzählte, dass ich ihm gesagt hatte, was seitens Daschners angedacht gewesen war. Meine Anweisung hatte gelautet, ihn darauf vorzubereiten. Nichts anderes hatte ich getan. Sollte ich leugnen? Nein, ich war mir sicher, dass Wolfgang Daschner zu dem stand, was er angeordnet hatte.
Am 14. und 17. Oktober 2002 hatte Gäfgen in Vernehmungen der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Frankfurt am Main in Anwesenheit seines Verteidigers Dr. Endres endlich zwei umfangreiche Geständnisse abgelegt. Mit keinem Wort erwähnten Gäfgen oder sein Anwalt, dass ich ihm den von der Behördenleitung angedachten unmittelbaren Zwang angekündigt hatte.
Ich hatte mich zwischenzeitlich mit der Problematik beschäftigt und fand Aufsätze und Stellungnahmen des Rechtsprofessors Dr. Winfried Brugger. Er vertritt seit 1995 die Ansicht, dass auch der grundgesetzlich (Art. 1 GG) garantierte Anspruch auf Achtung der Menschenwürde einer Abwägung fähig und bedürftig sei, und dass es in bestimmten Gefahrensituationen gerechtfertigt sein könne, gegen polizeirechtlich verantwortliche Personen sogar Gewalt anzuwenden. Brugger, so konnte ich in Erfahrung bringen, hatte Rechtswissenschaften, Soziologie und Philosophie studiert und schließlich mit »summa cum laude« zum Dr. jur. promoviert ; inzwischen ist er leider verstorben.
Durch seine Ausführungen wurde mir klar, dass sich mit diesem Thema hochqualifizierte Personen beschäftigt hatten und zumindest Prof. Brugger zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen war wie ich. Ungefähr zwei Wochen später, nachdem er wieder aus dem Urlaub zurück war, sprach Jürgen P. mich noch einmal auf den »Auftrag von Daschner« an. Ich vermied ein Gespräch, gab ihm stattdessen die Kopie eines Aufsatzes von Brugger. Mit keinem Wort erwähnte er, dass er Probleme mit Daschners angedachter Notlösung hatte.
Nach dem Ende der Herbstferien eröffnete die Carl-Schurz-Schule den Unterricht mit einer Trauerfeier für Jakob. Tausend Schüler, Eltern, Lehrer und die Familie von Metzler gedachten Jakobs.
Vor der Schule wurde ein Gedenkstein gesetzt. Daneben pflanzten Lehrer und Schüler einen Baum für Jakob.
»Wo ich auch nach Dir frage, find’ ich von Dir Bericht. Du lebst in meiner Klage und stirbst im Herzen nicht. Du wirst immer unser Freund bleiben.«
Der Oktober 2002 war von weiteren Tragödien überschattet. Am 12. Oktober wurde auf Bali ein Attentat verübt. Unter den 190 Toten waren viele Touristen. Am 23. Oktober nahm der tschetschenische Guerillaführer Besarev mit 41 Rebellen, darunter vielen Frauen, im Moskauer Theater Dubrovka mehr als 850 Geiseln. Drei Tage später pumpten Spezialeinheiten des russischen Inlandsgeheimdienstes eine Chemikalie in das Ventilationssystem des Theaters und stürmten kurz darauf das Gebäude. Die betäubten Terroristen wurden durch Kopfschüsse getötet, 129 Geiseln starben an Vergiftungen durch das eingeleitete Gas.
Diese schrecklichen Ereignisse bedrückten alle Personen, mit denen ich darüber sprach, mich eingeschlossen. Jeder von uns, Angehörige und Freunde, kann überall auf der Welt in terroristische Gewalttaten involviert werden. Zufällig. Sie waren nicht vorhersehbar, aber es war absehbar, dass es nicht die letzten sein würden. Oder sie konnten – wie Jakob – in die Hand eines Verbrechers fallen.
Ich fühlte mich öfter deprimiert, hatte keine Lust mehr, etwas zu unternehmen, funktionierte einfach nur. Und wollte vergessen. Nur meine Töchter brachten es fertig, dass ich mich manchmal etwas besser fühlte. Sie gaben mir vorübergehend Kraft und Freude. Ich hatte beides sehr nötig.
Sylvia und ich danken allen hessischen Polizistinnen und Polizisten für den unermüdlichen Einsatz, Jakob zu retten. Wir haben erfahren, welche Berufung Sie in Ihrem Beruf finden, Menschen im Unglück zu helfen, Unglück abzuwehren. Als am Montagabend unsere Hoffnung schwand, weil Jakob den mutmaßlichen Täter kannte, gab es bei Ihnen allen kein Zögern, bis zum letzten Moment
Weitere Kostenlose Bücher