Um Leben Und Tod
die Kindern etwas angetan haben.«
Es ist eine bekannte Tatsache, dass Kinderschänder, Kindsmörder, Kindesentführer im Knast schlechte Karten haben. Diese Delikte sind auf der Kriminellenskala ganz unten angesiedelt. Da sitzen die brutalsten Typen, aber wenn es um ihr eigenes Fleisch und Blut geht, werden sie zahm, sorgsam, entfalten Beschützerinstinkte. Wehe, meinem Nachwuchs passiert etwas, wehe, einer tut ihm weh, ich bin im Knast, ich kann ihn vor Gefahren nicht beschützen. Die eigene Angst und vor allem Ohnmacht, Machtlosigkeit werden dann stellvertretend auf denjenigen übertragen, der wegen eines entsprechenden Deliktes in U-Haft oder Haft kommt, also erreichbar ist. Da ist dann einer, der genau das gemacht hat, wovor sie Angst haben, wovor sie ihre Kinder schützen wollen â und nicht können, weil sie im Knast sitzen.
»Wenn du vor dem Knast Angst hast, da können wir versuchen, etwas für dich zu tun und die Anstaltsleitung ansprechen, damit dir nichts passiert.«
»Ich weià nicht, ich kann nichts sagen, ich bin da reingeraten â¦Â«
Gäfgen stammelte.
»In was bist du reingeraten? Die Zeit wird knapp!«
Schweigen, keine Reaktion.
Auch das führte also nicht weiter.
Ich selbst habe vier Kinder, zwei davon ungefähr im Alter von Jakob. Ich hänge sehr an ihnen. Die Jüngeren leben bei ihrer Mutter, und ich mache mir oft Gedanken um sie, weil sie so weit weg sind. Wie könnte ich ihnen helfen und was könnte ich tun, wenn ihnen etwas passieren würde? Wenn ich von Entführungen erfuhr, dachte ich an meine Kinder und ihre möglichen Ãngste und Qualen und wie sie in einer solchen Situation nach mir rufen und hoffen würden, dass ich ihnen helfe.
Diese Gedanken vermischten sich mit der aktuellen Situation. Ich dachte daran, dass Jakob lebte, irgendwo eingesperrt war, panische Angst hatte und möglicherweise verletzt war, dass er keine Chance hatte, sich selbst zu helfen, und es nur noch eine Frage von wenigen Stunden war, bis er stürbe. Ich hatte Bilder von seiner Verzweiflung, seinem angsterfüllten Flehen um Hilfe im Kopf.
Ich muss es schaffen, Bilder zu erzeugen!, sagte ich mir.
»Wo ist der Junge? Denk an seine Angst, an seine Augen, an seine vor Angst panischen Augen!«
Keine Reaktion, Gäfgens Blick war immer noch von mir abgewandt. Er konnte mir nicht in die Augen schauen.
»Wo ist Jakob? Du wirst immer an seine Augen denken, seine Schreie hören. Seine Augen werden dir nie aus dem Kopf gehen. Du wirst immer an seine Angst denken müssen, Tag und Nacht, und wenn du Kinder siehst, wirst du dich an ihn erinnern. Er wird dir nie aus dem Kopf gehen.«
Gäfgen machte immer noch keine Anstalten, irgendetwas zu sagen.
»Der Junge wird dir nie aus dem Kopf gehen!«
Ich machte in der Höhe meiner rechten Schläfe kreisende Bewegungen mit dem Zeigefinger meiner rechten Hand.
»Du wirst immer an ihn denken müssen! Du wirst von ihm träumen, du wirst nachts schweiÃgebadet aufwachen, du wirst ihn nie vergessen, er wird dich dein Leben lang verfolgen! Dein Leben lang wirst du nichts anderes sehen als seine Augen, nichts anderes hören als seine Angstschreie. Jeder Tag wird so beginnen, jede Nacht wird dich endlos quälen.«
Keine Reaktion.
»Du wirst Jakob nie vergessen, er wird dich immer verfolgen. Dein Leben lang. WeiÃt du, was es bedeutet, Tag und Nacht, jeden Tag deines Lebens an ihn zu denken? Was ist mit Jakob? Wie geht es ihm? Was hast du mit ihm gemacht? Hat er Hunger? Friert er? Wo ist er? In einer Kiste? Eingegraben? Was ist mit Jakob? Sagâs mir, sprich endlich! Was ist mit Jakob? Hat er Schmerzen? Lebt er noch?«
Keine Reaktion.
»Wo ist Jakob? Du wirst Jakob nie vergessen. Sein Flehen um Hilfe, sein Schreien werden dir nie mehr aus dem Kopf gehen, werden dich für immer verfolgen. Dein Leben lang. Hast du ihm wehgetan? Ihn verletzt? Kann er sich bewegen? Hat er genug Luft? Du wirst seine Augen nie vergessen, die panische Angst in seinen Augen, nie! Keine Nacht wirst du mehr schlafen, du wirst Angst vor der Dunkelheit haben, denn sie wird dich an das erinnern, was du mit Jakob gemacht hast. Wo hast du ihn versteckt?«
Nicht die Fragen oder die einzelnen Worte waren entscheidend. Es war die Gesamtheit meiner Person. Ich war voller Wut und Zorn, hatte Angst um Jakob, ich wollte und musste diesem Spiel ein Ende machen. Ich war total angespannt und vor
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