umgenietet: Maggie Abendroth und der alten Narren tödliches Geschwätz (German Edition)
Narbe sehen würde. Aber ich würde immer wissen, dass sie da ist. Hätte ich mich im Wagen nicht instinktiv weggeduckt, hätte mir die implodierende Windschutzscheibe vermutlich den Kopf abgetrennt. Mit dem aktuellen Ergebnis konnte ich also hochzufrieden sein.
Als das Taxi vor dem Bestattungsinstitut hielt, stieg ich aus, ohne mich zu verabschieden, ließ meinen Müll im Auto liegen und lief in die Hofeinfahrt, um die Tür zur Anlieferung zu nehmen, die direkt zu den Thanatopraxieräumen führte. Der dunkelblaue Leichenwagen stand auf dem Parkplatz. Als das Licht im Hof anging, blitzte das Logo an der Beifahrertür auf. Bestattungen Abendroth. Wenn Matti nicht gewesen wäre, würde ich jetzt hier liegen … tot im Bestattungsunternehmen, das meinen Namen trug, und Matti hätte mich bestimmt einbalsamiert …
Ich klopfte gar nicht erst an, sondern schob die Tür zu den Arbeitsräumen auf. Es brannte überall Licht, von Matti keine Spur. Ich rief seinen Namen, bekam aber keine Antwort. Ich schaute im Sarglager nach: nichts. Ich stöckelte weiter durch die Reihen der aufgestapelten Särge, öffnete die nächste Tür, sah Licht in der Sauna und klopfte an die Holztür. »Herr Matti, sind Sie da drin?«
Als Antwort hörte ich das Zischen von verdampfendem Wasser. Durch das kleine Fenster in der Tür war außer Dampf nichts zu sehen.
»Matti!«
»Ja, Frau Margret.«
»Wie lange wollen Sie da noch drinbleiben?«
»Eine Weile.«
»Könnten Sie eine kleine Weile draus machen?«
»Ich dachte, Sie sind unterwegs nach Amsterdam.«
»Wie Sie sehen … Sie kommen also nicht raus?«
Matti schwieg.
»Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, Herr Matti.«
»Keine Ursache.«
Diskussionen mit ihm sind wie Dialoge mit entfernten Sternensystemen. Selbst wenn ich mir alle Kaurismäki-Filme zu Studienzwecken anschauen würde, käme ich der Sache vermutlich nicht auf den Grund. Ich machte einen neuen Anlauf.
»Und wie geht es Ihnen?«
»Gut.«
»Waren Sie auch im Krankenhaus?«
»Nein.«
»War das so ein Eistauchertrick – das mit den fünf Minuten? Sie haben Ihr Leben riskiert.«
»Sie doch auch.«
»Quatsch. Ich bin nicht freiwillig ins eiskalte Wasser gesprungen.«
»Herr Winnie war auch dabei.«
»Ja, ja. Das weiß ich.«
In der Sauna zischte und dampfte es wieder.
»Herr Matti? Was haben Sie zu mir am Telefon gesagt, kurz bevor die Scheibe geplatzt ist?«
»Nichts.«
»Sie lügen.«
Es zischte wieder.
»Matti? Sie lügen!«
Die Tür der Sauna ging auf, und Matti, eingewickelt in ein großes, weißes Badetuch, ging an mir vorbei nach nebenan in die Duschkabine und schob die Glastür hinter sich zu.
»Sie sehen wunderbar aus in dem Kleid«, sagte er und drehte den Hahn voll auf. Ein paar Spritzer eiskalten Wassers trafen mein Gesicht. Ich tupfte sie mit dem Mantelärmel vorsichtig weg. Nach langen Minuten drehte er endlich das Wasser ab.
Im selben Moment startete ich die Wiedergabe der Gesprächsaufzeichnung und hielt das Handy über den oberen Rand der Schiebetür.
Als die Aufzeichnung zu Ende war, sagte er: »Ich wollte … Ich wollte Sie nicht ver… Ich wollte nicht, dass Sie den Mut verlieren.«
Aha?! »Den Mut nicht verlieren? Sie fragen mich, ob ich Ihre Frau werden möchte, damit ich den Mut nicht verliere? Das haben Sie doch, oder habe ich mich verhört?«
»Ja.«
»Was ja? Verhört oder gesagt?!«
»Gesagt«, flüsterte er. Ich konnte ihn kaum verstehen.
Ich kam mir vor wie in der finnischen Saunafassung der Balkonszene in Romeo und Julia. Vermutlich wird auch diese mit wesentlich mehr Konsonanten versehen sein.
»Ist es Ihnen peinlich, dass Sie das gesagt haben? Sind Sie so aus sich rausgegangen, dass Sie es jetzt bereuen? Oder plädieren Sie auf galoppierenden Irrsinn? Falls ja – keine Sorge, ich werde es nie wieder ansprechen.«
»Gut, Frau Margret.«
»Ich geh dann mal, Herr Matti. Vielen Dank. Für alles.« Die Tür der Duschkabine wurde aufgeschoben. In sein Badetuch gewickelt ging Matti an mir vorbei zu dem kleinen Umkleideraum neben der Dusche. Und jetzt sah ich, was ich vorher nicht gesehen hatte: Quer über die rechte Seite seines Brustkorbes war er mit etlichen Stichen genäht worden, eine lange, dunkelrot gefärbte Naht, auf der sich die Fäden schwarz abzeichneten. Ich sog die Luft durch die Zähne, grad so, als spürte ich den Schmerz am eigenen Leib, den eine solche Verletzung hervorruft.
»Was ist das?«
»Was?«
»Matti!«
»Ich bin an einer Scherbe im Rahmen der
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