Unbefugtes Betreten
selten, weil wir meinen, eine Partei sei so schlecht wie die andere. Dad tendiert vielleicht ein bisschen mehr nach rechts als Mum, aber im Grunde heißt unser Prinzip: Vertraue dir selbst, hilf anderen und erwarte nicht, dass der Staat von derWiege bis zur Bahre für dich sorgt. Wir zahlen unsere Steuern und unsere Rentenbeiträge und haben eine Lebensversicherung; wir nutzen den staatlichen Gesundheitsdienst und spenden nach unseren Möglichkeiten für Wohlfahrtsverbände. Wir sind ganz normale, vernünftige Mittelständler.
Und ohne Mum wären wir das alles nicht. Als ich klein war, hatte Dad ein leichtes Alkoholproblem, aber das hat Mum ihm ausgetrieben und dafür gesorgt, dass er jetzt ausschließlich in Gesellschaft trinkt. Ich galt in der Schule als »Störer«, aber das hat Mum mir mit Geduld und Liebe ausgetrieben und dabei genau klargestellt, welche Grenzen ich nicht überschreiten durfte. Vermutlich hat sie bei Dad dasselbe gemacht. Sie organisiert uns. Sie hat ihren Lancashire-Akzent nie ganz verloren, aber dieses alberne Nord-Süd-Getue machen wir in unserer Familie nicht mit, nicht mal im Scherz. Ich glaube, es macht auch etwas aus, dass nur ein Kind da ist, weil sich dann Kinder und Erwachsene nicht von Natur aus wie zwei Mannschaften gegenüberstehen. Man ist nur zu dritt, und ich wurde vielleicht mehr verhätschelt, aber ich habe von klein auf gelernt, mich in einer Erwachsenenwelt zu bewegen, weil etwas anderes nicht auf dem Programm stand. Vielleicht täusche ich mich da. Wenn du Janice fragen würdest, ob sie mich für richtig erwachsen halte, kann ich mir ihre Antwort lebhaft vorstellen.
Meine Mutter zieht also eine Grimasse, und mein Vater runzelt die Stirn. Sie gehen weiter, bis der Inhalt des Betonsilos deutlicher wird: eine gewölbte Halde von einer purpurroten Pampe. Jetzt sagt meine Mutter – und hier kann ich nur raten, obwohl mir ihr Wortschatz vertraut ist – etwas wie:
»Dasriecht ja ziemlich streng.«
Mein Vater sieht, worauf sich die Bemerkung meiner Mutter bezieht: einen Haufen Trester. Das ist offenbar die Bezeichnung für das, was nach dem Auspressen von Trauben übrig bleibt – die Rückstände an Schalen, Stängeln, Kernen und so weiter. Meine Eltern kennen sich da aus; sie sind auf ihre nichtfanatische Art sehr daran interessiert, was sie essen und trinken. So waren sie ja überhaupt auf diesen Feldweg gekommen – sie wollten ein paar Flaschen neuen Wein mit nach Hause nehmen. Mir ist Essen und Trinken nicht gleichgültig, ich habe nur eine eher pragmatische Einstellung dazu. Ich weiß, welche Nahrungsmittel am gesündesten sind und zugleich die meiste Energie liefern. Und ich weiß genau, mit wie viel Alkohol ich mich entspannen und fröhlich sein kann und wie viel zu viel ist. Jake, der fitter und gleichzeitig hedonistischer ist als ich, hat mir einmal erzählt, was man über Martinis sagt: »Einer ist perfekt. Zwei sind zu viel. Und drei sind nicht genug.« Bei mir ist das allerdings anders: Ich habe mir einmal einen Martini bestellt – und ein halber war gerade richtig.
Mein Vater geht also auf diesen großen Abfallhaufen zu, bleibt etwa drei Meter davor stehen und schnüffelt bewusst. Nichts. Anderthalb Meter – immer noch nichts. Erst als er die Nase fast in den Trester steckt, nimmt er etwas wahr. Und selbst dann ist es nur eine schwache Form des durchdringenden Gestanks, der da sein muss, wie seine Augen – und seine Frau – ihm sagen. Mein Vater nimmt das eher neugierig als beunruhigt auf. Den restlichen Urlaub lang überprüft er, wie sehr ihn seine Nase im Stich lässt. Benzindämpfe beim Tanken – nichts. Ein doppelter Espresso in einem Dorflokal – nichts. Blumenbüschel, die über einer bröckeligen Mauer hängen – nichts. Der FingerbreitWein, den ein herumscharwenzelnder Kellner ihm einschenkt – nichts. Seife, Shampoo – nichts. Deodorant – nichts. Das war überhaupt das Merkwürdigste, wie Dad mir sagte: Man benutzt ein Deodorant und kann etwas nicht riechen, was man benutzt, um etwas anderes zu verhindern, was man ebenso wenig riechen kann.
Sie waren sich einig, dass es nicht viel Sinn hätte, etwas zu unternehmen, bis sie wieder zu Hause waren. Mum war darauf gefasst, dass sie Dad ständig ermahnen müsste, damit er im Gesundheitszentrum anruft. Beiden widerstrebte es, einen Arzt zu bemühen, wenn es nichts Ernstes war. Aber wenn es den anderen betraf, hielt jeder es für ernster, als wenn es ihn selbst betraf. Daher die Notwendigkeit
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