Unbefugtes Betreten
drei Jahren wanderten meine Eltern in Italien einen Feldweg entlang. Ich stelle mir oft vor, dass ich ihnen zuschaue, immer von hinten. Meine Mutter hat das grau werdende Haar stramm zurückgebunden und trägt vermutlich eine weit geschnittene, gemusterte Bluse zu einer bequemen Hose und vorne offenen Sandalen; mein Vater hat ein kurzärmeliges Hemd, Kakihosen und blank geputzte braune Schuhe an. Sein Hemd ist ordentlich gebügelt und hat zwei Taschen mit Knöpfen sowie Aufschläge, wenn man das so nennt, an den Ärmeln. Er besitzt ein halbes Dutzend solcher Hemden; sie weisen ihn als einen Mann im Urlaub aus. Sie wirken aber überhaupt nicht sportlich; bestenfalls würden sie auf einen Bowlingrasen passen.
Möglicherweise halten die beiden Händchen; das taten sie immer unbefangen, ob ich nun hinter ihnen ging und sie beobachtete oder nicht. Sie wandern diesen Weg irgendwo in Umbrien entlang, weil sie einem ungelenk mit Kreide geschriebenen Schild folgen, das vino novello verheißt. Und sie gehen zu Fuß, weil sie sich die tiefen harten Lehmfurchen angeschaut haben und die ihrem Leihwagen nicht zumuten wollen. Ich hätte eingewandt, genau dazu sei ein Leihwagen doch da; aber meineEltern waren in vielerlei Hinsicht ein vorsichtiges Paar.
Der Weg verläuft zwischen Weingärten. Als er eine Biegung nach links macht, kommt eine rostige hangarähnliche Scheune in Sicht. Davor steht ein Betongebilde, das wie ein überdimensionaler Kompostbehälter aussieht: fast zwei Meter hoch und drei Meter breit, ohne Dach oder Vorderfront. Als sie auf etwa dreißig Meter herangekommen sind, guckt meine Mutter meinen Vater an und zieht eine Grimasse. Vielleicht sagt sie sogar »Igitt« oder etwas in der Art. Mein Vater runzelt die Stirn und antwortet nicht. Da passierte es zum ersten Mal, oder, um genau zu sein, bemerkte er es zum ersten Mal.
Wir wohnen in einer ehemaligen Marktstadt rund dreißig Meilen nordwestlich von London. Mum arbeitet in der Krankenhausverwaltung; Dad ist seit jeher als Anwalt in einer hiesigen Kanzlei tätig. Er sagt, er habe bis an sein Lebensende genug zu tun, aber in Zukunft werde es Anwälte wie ihn – die nicht nur Fachleute sind und sich mit Urkunden auskennen, sondern ganz allgemein Rat erteilen – nicht mehr geben. Der Arzt, der Pfarrer, der Anwalt, vielleicht noch der Lehrer – das waren in den alten Zeiten die Persönlichkeiten, an die man sich nicht nur ihrer beruflichen Kompetenz wegen wandte. Heutzutage, sagt mein Vater, fertigen die Leute ihre Kaufverträge selbst aus, setzen ihr Testament selbst auf, einigen sich im Voraus über die Regelung ihrer Scheidung und beraten sich selbst. Wenn sie eine zweite Meinung hören wollen, holen sie die eher bei einer Briefkastentante als bei einem Anwalt ein und am liebsten im Internet. Mein Vater nimmt das mit philosophischer Gelassenheit hin, selbst wenn sich die Leute einbilden, sie könnten sich vor Gericht selbst verteidigen.Er lächelt dann nur und zitiert den alten Juristenspruch: Wer sich vor Gericht selbst vertritt, dessen Mandant ist ein Idiot.
Dad hat mir davon abgeraten, in seine juristischen Fußstapfen zu treten, darum habe ich Pädagogik studiert und unterrichte jetzt an einem fünfzehn Meilen entfernten Oberstufenzentrum. Aber ich habe keinen Grund gesehen, aus der Stadt wegzuziehen, in der ich aufgewachsen bin. Ich gehe zum Training in die hiesige Sporthalle, und freitags jogge ich mit einer Gruppe, die mein Freund Jake leitet; da habe ich auch Janice kennengelernt. Sie wäre in einer Stadt wie dieser immer aufgefallen, weil sie so ein Londoner Flair verbreitet. Ich glaube, sie hat gehofft, ich würde in die Großstadt ziehen wollen, und war dann enttäuscht, als ich das nicht wollte. Nein, das glaube ich nicht; ich weiß es.
Mum ... wer kann schon seine Mutter beschreiben? Das ist so, wie wenn ein Interviewer ein Mitglied des Königshauses fragt, wie es ist, ein Mitglied des Königshauses zu sein; dann lacht der Gefragte und sagt, er weiß nicht, wie es ist, kein Mitglied des Königshauses zu sein. Ich weiß nicht, wie es wäre, wenn meine Mum nicht meine Mum wäre. Denn wenn sie das nicht wäre, dann wäre ich ja nicht ich, könnte ich gar nicht ich sein, oder?
Anscheinend war ich eine schwere Geburt. Vielleicht gibt es deshalb nur mich; ich habe aber nie gefragt. In unserer Familie spricht man nicht über Gynäkologie. Auch nicht über Religion, weil wir nämlich keine haben. Manchmal reden wir über Politik, aber wir streiten
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