Unbekannt verzogen: Roman
bisschen Glück erstickt sie gleich an ihrem Muffin. Carol verzieht sich lieber so lange in die Teeküche, um sich einen Kaffee zu machen.
Der Rest des Tages verschwimmt in einem Nebel aus stumpfsinnigen Aufgaben, sodass Carol am späten Nachmittag nicht mal mehr weiß, wo es schlimmer ist, im Büro oder zu Hause.
Dann ruft Bob an.
»Eine gute Nachricht«, sagt er. »Wenn man so will. Wenigstens ist es keine schlechte. Ich meine, unter diesen Umständen wäre eine schlechte Nachricht eine wirklich schlechte, und das ist sie definitiv nicht.«
»Bob? Was möchtest du mir sagen?« Es kommt ihr so ruppig über die Lippen, dass Bob sofort ganz klein wird.
»Ich habe einen Termin bei einem anderen Spezialisten.«
»Okay …« Das kann doch sicher noch nicht alles gewesen sein.
Aber es kommt nichts.
»Warum?«
»Mein Chef findet, ich sollte eine zweite Meinung einholen. Auf Firmenkosten. Als Privatpatient.«
Er klingt so stolz, als sähe er einer Beförderung entgegen statt einer Hodenamputation durch einen Privatmediziner.
»Ich soll mir so viel Zeit nehmen, wie ich brauche, und so viele Ärzte konsultieren, wie nötig sind.«
Ein nettes Angebot, in dem aber auch noch etwas anderes mitschwingt – die Hoffnung, dass er sich möglichst lange nicht im Büro blicken lässt. »Wieso nur eine erste und zweite Meinung? Wieso nicht lieber zehn oder zwanzig?« Und wenn ihm die Ärzte die Amputation beider Beine nahelegen und vielleicht noch eine Nierentransplantation als Zugabe oben draufpacken – die Firma würde ihn weiter von Praxis zu Praxis schicken, bloß, um ihn sich vom Leib zu halten.
»… schon morgen Nachmittag«, reißt Bob sie aus ihren Gedanken. »Dann sehen wir weiter.«
»Ja«, antwortet sie mit letzter Kraft. »Dann sehen wir weiter.«
Carol ist mit ihrer Geduld fast am Ende. Am liebsten würde sie ihm sagen, dass er endlich in die Gänge kommen soll, sich den Hoden entfernen lassen und sein Leben wieder in den Griff bekommen, damit sie sich um ihr eigenes kümmern kann. So heftig überfällt sie plötzlich der Zorn, dass es ihr Angst macht. Wenn sie nicht aufpasst, brechen beim nächsten Wort alle Dämme und der jahrelange Frust geht mit ihr durch. Dann würde der Krebs noch Bobs geringste Sorge sein.
Sie nimmt sich zusammen. »Entschuldige«, sagt sie bemüht freundlich. »Aber ich stecke mitten in einem …«
»Schon gut, schon gut. Ich muss sowieso meinen neuen privaten Facharzt anrufen.«
Nachdem er aufgelegt hat, sitzt Carol noch sekundenlang mit dem Hörer in der Hand da. Sie weiß, dass sie im nächsten Moment aus der Rolle fallen wird, sie weiß bloß noch nicht, wie. Auf den Schreibtisch klettern und ganz laut »Scheiße!« brüllen? Das Telefon in tausend Stücke zerschlagen, wie Rumpelstilzchen auf den Plastiktrümmern herumspringen, bis sie ein Loch in den Teppichboden getrampelt hat?
Aber dann macht sie etwas noch viel Verrückteres.
Sie schnappt sich ein leeres Blatt Papier und fängt an zu schreiben.
Dreißig Minuten später sieht Carol um einiges glücklicher aus. Als sie den Umschlag zuklebt, fühlt sie sich so beschwingt wie seit Ewigkeiten nicht mehr.
Den Brief zu verbrennen, kommt nicht in Frage. Höchstens, wenn sie wieder zu Hause ist, aber das Leben ist sowieso schon schlimm genug, auch ohne dass sie sich die Bude über dem Kopf abfackelt.
»Ich bin mal kurz weg«, sagt sie. Cynthia nickt mit dem Kopf, eine schier übermenschliche Energieleistung, nach der sie sich erst mal mit einer Tüte M&Ms stärken muss.
Wie beflügelt springt Carol aus dem Lift. Sie kann es immer noch nicht recht glauben, dass sie ihr Vorhaben tatsächlich durchziehen wird.
Als sie auf die Straße tritt, muss sie an die Menschen denken, die Halt im Gebet finden, denen es besser geht, nachdem sie sich alles, was sie bedrückt, von der Seele geredet haben, und auch, weil sie glauben, dass ihnen jemand zugehört hat. Spielt es wirklich eine Rolle, ob sie damit richtig liegen? Wohl kaum. Mit pochendem Herzen bleibt Carol vor dem Briefkasten stehen. Sie malt ein zittriges Smiley-Gesicht auf die rechte obere Umschlagecke und wirft den Brief ein.
Und tatsächlich. Kaum ist er hineingeplumpst, fühlt sie sich sofort besser.
16
Am ersten Tag in seinem neuen Aufgabenbereich räumt Albert erst mal das Kabuff auf – eine Aktion, die nur mit zahlreichen ausgedehnten Teepausen vonstattengehen kann.
Nach einem Wochenende, an dem es ihm vor der Rückkehr zur Arbeit regelrecht gegraut hat, unternimmt
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