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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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er nach dem Aufräumen also den Versuch, die unzustellbare Post zu sortieren – indem er zum Beispiel die Briefe an den Weihnachtsmann ausmustert. Viele sind auch gleich an Gott adressiert, als hätte Royal Mail eines der letzten Rätsel der Menschheit gelöst: Während der Rest der Welt noch darüber debattiert, ob Gott existiert, kennt Royal Mail nicht nur die Antwort auf diese Frage, sondern auch seine Anschrift.
    »Alles Spinner, durch die Bank«, knurrt Albert, während er die Schreiben ins Altpapier befördert.
    Schon am Dienstag fängt er an, die ersten Briefe zu lesen. Genau genommen gehört das nicht zu seinen Aufgaben, aber in der Einsamkeit verändert sich seine Einstellung zu Vorschriften und Regeln. Sie haben ihn in diese Besenkammer abgeschoben, weil sie ihn nicht mehr haben wollen, und jetzt betrachtet er sich eben als den Herrscher über sein neues kleines Reich, in dem er tun und lassen kann, was ihm gefällt.
    Die Qualität des Umschlags erweist sich als guter Anhaltspunkt für den Inhalt. Wer sich sein Briefpapier etwas kosten lässt, hat in der Regel auch etwas zu sagen. Selbst die kindlichen Wunschzettel an den Weihnachtsmann machen auf teurem Papier mehr her. Beispielsweise der, den Albert gerade liest: »… mindestens fünfhundert Pfund in bar und ein neues Pony (aber nicht wieder ein schwarzes wie im letzten Jahr).«
    »Na dann, fröhliche Weihnachten«, sagt er und zerreißt den Brief in kleine Schnipsel.
    Als sich im Korridor Schritte nähern, spielt er den fleißigen Briefesortierer.
    Ein achtzehnjähriges Pickelgesicht kommt herein, von der ganzen Ausstrahlung her weniger unterbelichtet als komplett unbelichtet wirkend. Stumm übergibt er Albert ein Bündel Briefe und tapst wieder hinaus.
    Gespannt geht Albert die neuen Sendungen durch, als wären sie für ihn bestimmt. Manche Adressen sind so gekrakelt, dass es sich um altsumerische Handschriften handeln könnte – oder um ägyptische Hieroglyphen.
    »Möglich wär’s«, sagt er zu sich. »Ein Brief, der im britischen Postsystem fünftausend Jahre als Irrläufer unterwegs ist? Da habe ich schon Schlimmeres gehört.«
    Und dann sieht er es.
    Auf einem unbeschrifteten weißen Briefumschlag, nicht gerade die allerbeste Qualität, aber durchaus annehmbar: oben in der Ecke ein Smiley.
    Ohne zu zögern, reißt er den Umschlag auf.

17
    Liebes … also, Universum nenne ich Dich jetzt nicht, das klingt mir dann doch zu albern. Lieber Gott geht noch weniger. Croydon ist der endgültige Beweis dafür, dass es Gott nicht gibt.
    Sagen wir einfach, Du bist Du. Und ich bin ich.
    Beklommen blickt Albert sich um. Gegen die Vorschriften zu verstoßen, um schwachsinniges Geschwafel zu lesen, ist ja schön und gut – aber einen Brief wie diesen?
    Wegwerfen kann er ihn aber auch nicht mehr. Die letzte Zeile hat sich ihm schon eingeprägt. Sagen wir einfach, Du bist Du. Und ich bin ich.
    Da der Brief keinen Adressaten hat, fühlt Albert sich angesprochen. Wenn das nicht Grund genug ist, ihn zu lesen?
    Damit er ihn schnell verschwinden lassen kann, falls jemand hereinplatzt, rückt er mit seinem Stuhl in die hinterste Ecke des Raumes.
    Er hat Herzklopfen, als er weiterliest.
    Am liebsten würde ich laut schreien. Keine gute Idee, wenn man mit anderen Leuten in einem Büro hockt. Hier hängen nach dem Mittagessen alle so schlapp in den Seilen, dass ich sie mit meinem Gebrüll wahrscheinlich zu Tode erschrecken würde. Meine Schreibtischnachbarin wäre auf jeden Fall hinüber. Deshalb schreibe ich lieber Dir einen Brief.
    Achtung, jetzt kommt’s: Mein Leben ist ein Schokoladensoufflé. Man müht sich stundenlang damit rum, und wenn man es dann aus dem Ofen holt, sieht es aus wie eine zermanschte Katze. Es ist nicht gefährlich. Und kein Massenvernichtungsmittel. Es ist bloß nicht das, was es sein sollte. Sondern eine einzige Enttäuschung. Man guckt es sich an und denkt: »Das ist in die Hose gegangen.« Und das war’s. Man kann es nicht einfach noch mal für ein paar Minutenin den Ofen schieben. Es ist kein Fiasko, das sich irgendwie wieder hinbiegen lässt. Es ist ein Fiasko, sonst nichts.
    Ich glaube, ich weiß, was mein größtes Problem ist. Ich kann meiner Familie nicht sagen, dass sie mich unglücklich macht. Dabei müsste das doch eigentlich kinderleicht sein, nicht wahr? Man ist traurig, man spricht mit jemandem darüber. Aber das scheint bei mir nicht zu funktionieren. Ich habe die Worte im Kopf, sogar fast schon auf den Lippen, aber sie wollen

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