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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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dabei?«, erkundigt er sich bei den Kollegen von der Sortierstelle.
    »Albert, hier sind heute über fünfzigtausend Briefe durchgelaufen. Sollen wir die etwa alle per Hand durchforsten?«
    Doch, das sollen sie. Und er meldet sich freiwillig. Wenn es sein muss, bleibt er bis morgen früh. Er kann sowieso seit Tagen nicht mehr richtig schlafen. Der eine Brief hat alles verändert.
    »Und da drin ist auch nichts steckengeblieben?« Er deutet mit dem Kopf auf die Sortieranlange. »Schaut euch das Ding nur mal an. Die Maschine hat Geheimnisse, das sieht doch ein Blinder.«
    Plötzlich bemerkt Albert, wie ungläubig die schweigenden Kollegen ihn mustern. Ob er vielleicht den Verstand verliert?
    »Also dann … also gut … es scheint ja alles in bester Ordnung zu sein.« Im Krebsgang tritt er langsam den Rückzug an, wedelt noch einmal mit den drei Briefen und tut so, als ob er sich darüber freut. »Die haben mir noch gefehlt. Danke, Kollegen.«
    Auf den Flurfunk ist Verlass, und so dauert es nur wenige Minuten, bis Darren auf »ein kleines Schwätzchen« bei Albert hereinschneit.
    »Na, wie ist die Lage?« Er sieht Albert forschend an, ob sich bei ihm schon Anzeichen des Altersschwachsinns zeigen, den er ihm seit längerem unterstellt.
    »Alles bestens, jetzt ist hier alles tipptopp«, antwortet Albert, denkt aber sofort, dass das vielleicht zu sehr so klingt, als sei er hier fertig. »Natürlich ist immer noch viel zu tun. Aber ich komme gut voran.«
    »Gut …« Darren blickt sich in dem Kabuff um. »Und du fühlst dich auch nicht zu … abgeschnitten vom Rest der Welt?«
    »Nein, nein. Es macht mir sogar richtig Freude. Schließlich hast du mir eine wichtige Aufgabe anvertraut.«
    »Äh, ja …«
    »Es soll doch der krönende Abschluss meiner Laufbahn sein.«
    »Dafür sind wir dir auch sehr dankbar. Aber vielleicht könntest du dich bis zum Ende deiner Dienstzeit auf die Altbestände beschränken. Du brauchst dich nicht auch noch an den Neueingängen abzuarbeiten.«
    »Ich will eben immer am Ball bleiben.«
    Darren sieht ihn mitleidig an. »Das verstehe ich ja, trotzdem ist es für alle Beteiligten besser, wenn du den Jungs von der Sortieranlage vertraust, ja?« Er deutet auf die prallen Säcke, die an der Wand aufgereiht sind. »Denk dran, das landet alles auf dem Müll. Dafür interessiert sich doch kein Mensch mehr.«

21
    Carol besucht ihre Mutter nur, wenn es sich absolut nicht vermeiden lässt – und ungefähr genauso gern, wie sie zum Gynäkologen oder Zahnarzt geht. Anders als nach einem Abstrich oder einer Prophylaxebehandlung allerdings ist sie hinterher jedes Mal ein seelisches Wrack und schwört sich, dass dieser Besuch der letzte gewesen ist.
    Die Tür geht auf, und vor ihr steht Deirdre, ihre Mutter, ohne sich die leiseste Gefühlsregung anmerken zu lassen.
    »Ich habe die Klingel nicht gehört«, sagt sie. »Wartest du schon lange?« Als Carol antworten will, fährt sie ihr über den Mund. »Sicher müssten die Batterien ausgetauscht werden. Aber deinen Vater brauche ich ja gar nicht erst zu fragen. Es bleibt ja eh alles an mir hängen.«
    Sie hält die Tür auf und tritt beiseite.
    Solange Carol schon denken kann, hat das Haus immer eine ganz eigene Atmosphäre gehabt. Wo die Häuser anderer Leute vielleicht Fleiß, Lebensfreude oder sogar Liebe ausstrahlen, verbreitet ihr Elternhaus nur Stille. Keine friedvolle oder meditative Ruhe, sondern eine Stille muffiger Geheimnisse und langsamen Verfalls – eine absolute Stille, die körperlich zu spüren ist.
    Erst im Wohnzimmer atmet Carol wieder auf.
    »Tag, Dad.«
    Ihr Vater malmt schief mit den Kiefern, aber aus seinem Mund kommen nur unverständliche Laute, wie ein langsam rückwärts abgespieltes Hallo .
    Carol stützt sich auf seinen Rollstuhl, beugt sich zu ihm hinunter und gibt ihm einen Kuss.
    »Er hält mich schon den ganzen Morgen auf Trab«, sagt Deirdre.
    »Ach ja? Ich dachte, so ziemlich das Einzige, was er ohne dich kann, ist atmen.«
    »Du hast ja keine Ahnung, weil du es nicht Tag für Tag aushalten musst.« Sie wendet sich ihrem Mann zu und erhebt die Stimme. »Früher hättest du um diese Tageszeit schon den Kanal voll gehabt, was? Aber die Zeiten sind vorbei. Dieses Teufelszeug kommt mir nicht mehr ins Haus.«
    Damit nimmt der Besuch die unaufhaltsame Wende zum Schlechteren. Schneller und immer schneller geht es bergab, so rasant, dass Carol fast meint, den Wind in den Haaren zu spüren.
    »Musst du eigentlich immer mit Früher

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