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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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anfangen?«, fragt sie.
    »Du hast leicht reden.« Deirdre verschwindet in der Küche, doch ihre Stimme dringt durch jede Wand, wie schwere Artillerie. »Er soll merken, dass hier jetzt ein anderer Wind weht.«
    Was bedeutet, dass Gott in dieses Haus Einzug gehalten hat. Womit für Carol über Gott auch schon alles gesagt wäre.
    Die offizielle Version ihrer Mutter lautet: Der liebe Gott hat sie vor einem tyrannischen Trinker gerettet, indem er ihn nicht nur durch einen, sondern gleich drei Schlaganfälle niedergestreckt hat. Seit diesem göttlichen Rundumschlag ist Carols Vater nur noch ein Schatten seiner selbst, seiner Frau noch in den simpelsten Bedürfnissen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert.
    Wenn Gott tatsächlich allmächtig ist, hätte er sich doch auch damit begnügen können, ihren Vater auf den rechten Weg zurückzuführen, aber das hätte Deirdre natürlich nicht genügt. Deirdres Gott muss borniert und rachsüchtig sein, ein nachtragender Spießer.
    »Wie geht es Bob?«, tönt es aus der Küche.
    »Gut … wie immer.« Carol ist nicht nach einem Gespräch über Krebs zumute. Wer weiß, was ihre Mutter da wieder hineindeuten würde?
    Sie wirft einen Blick auf ihren Vater, der wie ein Gefangener in seiner Zimmerecke hockt. Früher wäre ihnen bei so einer günstigen Gelegenheit sofort ein kleiner Streich eingefallen.Carol hätte hinter Deirdres Rücken Fratzen geschnitten, er hätte sich schnell einen Schluck aus einem gut versteckten Flachmann genehmigt.
    Damals hat ihre Mutter noch nicht so viel Aufhebens um ihren Glauben gemacht. Er war nicht mehr als ein Hobby, Spintisierereien einer Frau von beschränktem Verstand. Das hat sich erst mit dem Machtvakuum verändert, das nach den Schlaganfällen ihres Mannes entstanden ist – so wie das Unkraut überhandnimmt, wenn der Gärtner tot ist.
    Deirdre kommt mit zwei großen Tassen Tee ins Wohnzimmer. »Er hat schon wieder das Telefon von der Gabel gehauen. Dauernd denke ich, ich habe womöglich einen Anruf von dir verpasst.«
    »Dann würde ich es später noch mal versuchen.«
    Deirdre geht nicht auf Carols Antwort ein. Sie sieht zu ihrem Mann hinüber. »Er macht es mir zehnmal so schwer, wie es sowieso schon ist.«
    »Sei lieber froh, dass er sich überhaupt noch bewegen kann.«
    Deirdres Miene lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie auf diesen Kommentar gern hätte verzichten können. Möglicherweise ist es eine Glaubensfrage, denkt Carol. Wenn sie wirklich denkt, dass Gott ihren Mann gestraft hat, müssten ihr wegen der Sache mit dem Telefon eigentlich Zweifel kommen, ob sie ihren Retter nicht vielleicht doch ein bisschen überschätzt hat.
    Carol findet es viel interessanter, was wohl im Kopf ihres Vaters vor sich gehen mag, wenn er, was selten genug vorkommt, zum Telefonhörer greifen will. Durchaus möglich, dass er sie anrufen will, einen stummen Hilfeschrei auf den Lippen: »Hol mich hier raus!«
    »Ich gehe heute Abend in die Kirche«, sagt Deirdre. »Komm doch mit, es würde dir guttun. Die Predigt handelt davon, vor dem Weltuntergang Buße zu tun.«
    »Nein danke.«
    Deirdre seufzt. »Du hast es im Leben viel zu leicht gehabt, das ist dein Problem. Du hast deine Arbeit, dein Haus, deine Familie. Du bist immer ohne den Glauben ausgekommen.« Sie beäugt Carol von der Seite, und ein gehässiger Unterton schleicht sich in ihre Stimme. »Ich würde zu gern erleben, wie du mal so richtig auf die Nase fällst. Ob du dann auch noch allein zurechtkommst?«
    Obwohl Deirdre offensichtlich auf einen Streit aus ist – denn schließlich ist ihr Gott ein kriegerischer –, atmet Carol nur einmal tief durch und lässt sich nicht aus der Reserve locken. Auch wenn Deirdre nach außen hin noch so hart und selbstherrlich auftritt, spricht aus ihr nur die Ideologie: Unter ihrem Panzer ist sie eine kleine, schwache Frau, wie ein Kind, das sich hinter einer Verkleidung versteckt. Die Religion ist für sie weniger ein Ausdruck des Glaubens als vielmehr eine Ersatzpersönlichkeit, eine lebenslange Garantie, dass sie nie wieder einen eigenen Gedanken fassen, eine eigene Meinung äußern muss. Wo andere ihre Ängste mit Drogen oder Alkohol in Schach halten, hat Deirdre ihr Heil im Dogma gefunden, in einer Welt aus kaltem Schwarz und Weiß, die genauso betäubt wie ein Crackpfeifchen – und noch den kostenlosen Bonus einer nervtötenden Selbstgerechtigkeit bereithält.
    »Und wie geht es Sophie?«
    »Prima. Sie hat viel um die Ohren, wegen der Schule.«
    »Ich

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