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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Winter
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Hand nach ihnen auszustrecken.
    In letzter Zeit denke ich viel an früher. An einen ganz besonderen Mann aus meiner Vergangenheit. Aber darüber nächstes Mal mehr.
    Danke fürs Zuhören.
    C.

18
    Eine Blechbüchse ist nicht für die Aufbewahrung von Briefen gedacht. Und der Brief dürfte von Rechts wegen gar nicht in seiner Wohnung sein. Aber so ist es im Leben nun einmal: Es passiert viel, was eigentlich nicht passieren dürfte.
    »Das ist wie mit diesen Halbstarken, die auf der Straße rumlungern«, sagt Albert zu Gloria. »Du würdest rot werden, wenn du wüsstest, was sie letzte Woche zur alten Mrs. Hodgkins gesagt haben. Gut, ich konnte die Frau noch nie leiden, aber deshalb darf man noch lange nicht so ein Wort in den Mund nehmen, geschweige denn es ihr durchs Fenster in den fahrenden Bus hinterherbrüllen.«
    Auch nachdem er die Plätzchendose im Küchenschrank versteckt hat, lässt ihn die Angst nicht los, dass jeden Augenblick die Polizei hereingestürmt kommen könnte, um genau nach der Sache zu suchen, deren Besitz er sich auch in seinen wildesten Träumen nicht zugetraut hätte: einem unterschlagenen Brief.
    »Eigentlich war er sowieso für mich gedacht.«
    Gloria blinzelt einmal und noch ein zweites Mal, ihre Stimmung ist schwer zu deuten.
    »Oder meinst du etwa, sie hat sich die ganze Mühe gemacht, damit die Post ihn vernichtet? Man müsste schon nicht ganz bei Trost sein, einen Brief zu schreiben, der dann verbrannt wird.«
    Er stellt Gloria eine Untertasse mit Milch hin; damit hat er sie schon immer auf seine Seite gekriegt.
    »Ich hab den Brief schließlich gefunden. Und was man gefunden hat, darf man doch behalten, oder nicht?«
    Gloria schlabbert zufrieden schnurrend ihre Milch, was Albert selbstverständlich als ein Zeichen allumfassender Zustimmung auffasst: dass er ein guter Mensch mit einem guten Herzen ist, der niemals ein Verbrechen begehen könnte.
    Es ist spät geworden – Zeit für Alberts Abendritual: etwas Fades kochen und etwas Fades im Fernsehen gucken. Stattdessen läuft er aufgedreht im Zimmer auf und ab.
    »Sag mal, was hältst du von Makrele?«
    Gloria blickt auf, an ihren Lippen und Schnurrhaaren hängen Milchtröpfchen.
    »Ein Kuchen wäre auch was Feines. Wir haben uns schon ewig keinen leckeren Kuchen mehr gegönnt.« Bevor er es sich anders überlegen kann, zieht er sich schnell die Jacke an und geht zur Tür. »Bin gleich wieder da.«
    Max ist zwar in seiner Wohnung, kann aber mit Sicherheit Alberts Schritte hören.
    Das wird ihn ganz schön aus dem Konzept bringen, denkt der, als er an den Topfpflanzen vorbeikommt. Dass ich um sechs Uhr abends noch mal aus dem Haus gehe!
    Er hat es nicht weit, nur bis zu dem kleinen Laden an der Ecke, der schon bessere Zeiten gesehen hat und dessen Besitzer nervös hinter seiner gut befestigten Kasse hervorlugt.
    Äußerlich ist Albert keine Veränderung anzumerken, als er zwischen den Regalen hindurchwandert: der Gang ein bisschen steif, die Augen eine Spur zu weit aufgerissen, wie bei einem Kaninchen, das von einem Raubtier im Genick gepackt wird. Aber in seinem Inneren regt sich etwas, zum ersten Mal seit Jahren. Anfangs denkt er noch, es wäre mal wieder die Verdauung, aber diese Erklärung greift zu kurz.
    Er packt zwei Dosen Makrelen in seinen Einkaufskorb und steuert die Abteilung mit dem Kuchen an. Irgendwie fühlt er sich leichter.
    Während er sich für einen Rosinenkuchen mit Zuckerguss entscheidet – eine sehr verschwenderische Leckerei für einen Mittwochabend –, wird es ihm plötzlich klar: Wenn er sich nicht zusammenreißt, dann wird er weiterträumen, von neuen Briefen. Und davon, in ihr eine Art Freundin gefunden zu haben.

19
    Für Carol gibt es keinen härteren familiären Belastungstest als einen ganz normalen Werktagsabend. Am Wochenende vergisst man leicht, dass eigentlich jeder jeden hasst, weil man sich die Nächte schöntrinkt und die Vormittage größtenteils verschläft. Unter der Woche fehlt dieses schützende Polster, und man muss sich der brutalen Realität stellen wie ein Vergnügungssüchtiger auf kaltem Entzug.
    Der heutige Abend müsste eigentlich noch schlimmer ausfallen. Zumindest im übertragenen Sinne liegt Bobs Hodengeschwulst inzwischen wie ein dunkler Schatten über ihrer aller Leben. Noch immer haben sie Sophie nichts gesagt, ihre durch und durch verlogene Ehe mit einer weiteren Unwahrheit befrachtet.
    Trotzdem ist heute etwas anders als sonst. Carol kann es sich selbst nicht erklären, aber

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